"22 ist nicht 89" – dieses Signal an Kirchen ist gut
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Montags wird im Osten der Republik wieder demonstriert. Waren es in Sachsen Ende August noch circa 9.000 Menschen an knapp 70 Orten, waren es zwei Wochen später schon 21.000 in über 90 Orten, wie der Landesverfassungschef angab. Natürlich ist es eine deutliche Minderheit innerhalb der krisengeschüttelten, teils auch dauererregten Gesellschaft. Doch hat das flächendeckende Phänomen zahlreiche Ursachen und ein hohes Mobilisierungspotential. Es erschreckt schon jetzt, dass der rechte und linke Rand – teils gemeinsam – dies ausnutzen. Noch erschreckender ist jedoch, dass Teile der Mitte der Gesellschaft bereit sind, ohne Abgrenzungssensibilität mitzulaufen. Wie groß muss die Wut und die Frustration sein, wenn man in Kauf nimmt, Neonazis zu folgen?
Wer meint, es gäbe heute keine Freiheit, hat vergessen, was wirkliche Unfreiheit bedeutet. Jetzt, wo das Land an die Revolution mit Kerzen vor 33 Jahren denkt, braucht es das klare Wort gegen die Verharmlosung: 2022 ist nicht 1989. Denn wir leben in keiner Diktatur! In Sachsen ist diese Botschaft inzwischen an mehreren kirchlichen Gebäuden zu finden. Das ist gut so. Erst recht, wenn sie im Inneren zu Orten des ernsthaften Gesprächs werden. Denn natürlich sind die Herausforderungen unserer Zeit nicht einfach zu lösen, schaffen Verunsicherung und verbieten schlichte Antworten.
Die Kirchen sollten sich die Symbole und Narrative des Friedlichen Umbruchs nicht aus der Hand nehmen lassen. Nur zur Erinnerung: Es waren Friedensgebete, Kerzen und der Ruf nach mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, die unser Land verwandelten. Mit ihrer an Erfahrung verdichteten Liturgie haben die Kirchen auch jetzt einen Schatz, um Sorgen und Ängsten einen Raum zu bieten. Mit ihren Räumen und ihrem Menschenbild haben sie sowohl den Platz als auch die Haltung, das ernsthafte Gespräch mit jenen zu führen, die versöhnen statt spalten wollen. Die Kirchen können die Menschen aus ihren Reihen ermutigen, sich in Debatten und den öffentlichen Interessenausgleich einzubringen statt still die Minderheit zu beobachten. Es ist ihr Potential, diesen heißen Herbst nicht nur mitleidig zu beobachten, sondern aktiv abzukühlen. Es ist keine Aufgabe des Ostens, sondern der ganzen Republik.
Der Autor
Thomas Arnold ist Leiter der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen.
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.