Standpunkt

Protest der "Klima-Kleber": Ziviler Ungehorsam soll stören, aber...

Veröffentlicht am 04.11.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die "Letzte Generation" erntet für ihre Klimaproteste viel Gegenwind. Ziviler Ungehorsam muss stören – doch gefährdet er Menschenleben, wird er zynisch, kommentiert Matthias Drobinski. Es gelte immer wieder zu diskutieren, was verhältnismäßig ist.

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In Berlin konnte einer schwer verletzten Radfahrerin nicht schnell genug geholfen werden, weil ein Spezialwagen der Feuerwehr in einem Stau stand; den hatte eine Blockade von Klimaaktivisten der "Letzten Generation" verursacht. Die Frau ist jetzt hirntot, das ist furchtbar und sollte alle sehr nachdenklich machen, die sich am Asphalt festkleben oder Kunst mit Kartoffelbrei bewerfen, in der Hoffnung, Politik und Bevölkerung den Ernst der Erderhitzung nahe zu bringen. Wenn eine Aktion zur Rettung der Menschheit Menschen gefährdet, wird sie zynisch. Wenn ein Kunstwerk gefährdet wird, das nun nicht zur Erderwärmung beiträgt, wird der Protest selbstreferentiell und selbstermächtigend, politisch wirkungslos, gar kontraproduktiv.

Erschreckend ist allerdings auch, welcher Hass und welche Aggression nun über den Menschen ausgekübelt wird, die da zivilen Ungehorsam üben. Bei aller Kritik an den Aktionsformen: Es sind keine "Klimaterroristen" oder "Klima-Chaoten", die da den Berufsverkehr aufhalten. Es sind Menschen, die es nicht aushalten, dass ganze Regionen verdorren oder überschwemmt werden, dass Menschen heimatlos werden, sterben – und das Leben im reichen Norden einfach so weitergeht. Sie stören einen Berufsverkehr, der sich täglich selbst aufhält, der in jeder Großstadt ganz legal aufgehalten wird von Demonstrationen oder dem nächsten Stadtmarathon, ohne dass es große Aufregung gäbe.

Der Hass auf die Festgeklebten zeigt, dass der Protest der Letzten Generation ganz offenbar einen wunden Punkt trifft. Das soll ziviler Ungehorsam auch: wunde Punkte treffen, stören, Abläufe unterbrechen. Wenn er gewaltfrei und verhältnismäßig bleibt, ist er deshalb ein wichtiges Instrument der politischen Willensbildung und Auseinandersetzung; dann es ist gut, wenn er die Parlamentarier wurmt und kratzt. An der Gewaltfreiheit dieses Ungehorsams darf es keine Abstriche geben. Was verhältnismäßig ist, muss immer wieder neu diskutiert werden. Der Tod der Radfahrerin sollte ein Anlass sein, dies in der gebotenen Nachdenklichkeit zu tun – für die Aktivisten wie für ihre schäumenden Kritiker.

Von Matthias Drobinski

Der Autor

Matthias Drobinski ist Chefredakteur der Zeitschrift "Publik-Forum".

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.