Dichter: Schlaflose Nächte, weil Missbrauch nicht bemerkt
Reinhard Reich, Jahrgang 1962, war zwischen 1976 und 1981 Schüler am Benediktinergymnasium Ettal – also genau in der Zeit, als die Mönche dort Kinder missbraucht haben. Eine Studie aus dem Jahr 2013 spricht davon, dass Misshandlungen und sexuelle Übergriffe Teil eines "Systems der Unterdrückung" und Gewalt waren. Reich selbst hat keinen Missbrauch erlebt, aber Gedichte darüber geschrieben. Im Interview spricht er über seine Schulzeit, ein schwer zu ertragendes "und" sowie die besondere Form seiner Texte.
Frage: Herr Reich, Sie sind selbst kein Missbrauchsbetroffener. Warum haben Sie dann Gedichte über das Thema geschrieben?
Reich: Ich schreibe immer schon Gedichte, das ist meine Form des Ausdrucks. Gedichte ermöglichen es mir, bei mir selbst in die Tiefe zu gehen. Dadurch kann ich ganz anders und überhaupt über so etwas sprechen. Denn durch ein Gedicht gibt es immer eine Distanz: Nicht ich spreche da, sondern der Autor. In diesem Fall war das nach den vielen Gesprächen und nachdem es nach der großen Aufdeckung der Missbrauchsfälle 2010 zehn Jahre lang in mir gegärt hat, ein gutes Mittel. Ich hatte nach Gesprächen mit Mitschülern festgestellt, dass es uns selbst erst nach und nach gelungen ist, offen darüber zu sprechen. Ich war ganz nah dran: In meiner Klasse gibt es echte Opfer, mit denen ich mich ausgetauscht habe. Das war für mich eine sehr wichtige Erfahrung: Wir alle waren alleingelassen. Wir haben uns viel darüber ausgetauscht. Ich habe das sehr nah an mich herangelassen. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und habe geschrieben.
Frage: Was hat dafür gesorgt, dass dieses Thema Sie nicht mehr losgelassen hat?
Reich: Dafür musste nichts sorgen. Die Gespräche mit den Klassenkameraden haben dafür gesorgt, dass das Thema mehr an die Oberfläche kam. Trotz der schrittweisen Aufklärung schlummerte es in mir, da war lange Zeit auch viel Verdrängung dabei. Dann merkte ich an mir selbst, wie man es nicht aushält und nicht erträgt. Und dann diese Gespräche bei den Klassentreffen. Wir sind die einzigen, die sich nicht in Ettal treffen, alle anderen machen das. Diese Treffen haben es mehr an die Oberfläche gebracht. Für mich lag es nahe, das literarisch zu verarbeiten, weil das einfach eine meiner Ausdrucksweisen ist. Und mir ist klar: Es wird nicht vergehen. Das geht nicht mehr weg. Ich merke das bis heute: Ich hatte Lesungen, bei denen mir das alles wieder sehr nahe war. Ich habe mich sogar coachen lassen, weil ich eigentlich davon ausging, ich selbst sei nicht imstande, vor Publikum diesen Text zu lesen. Das müsse ein Dritter machen. Ich habe aber dann gemerkt, dass es irgendwie doch geht. Aber trotzdem fasst es einen an.
Frage: Beim Lesen hatte ich den Eindruck, dass da eine ganz gedrungene Atmosphäre rüberkommt. Also obwohl Sie selbst kein Opfer sind, schwingt da etwas mit. Was haben Sie in Ihrer Schulzeit denn mitbekommen?
Reich: Nichts. Und das ist genau mein Problem – und nicht nur meins. Viele von uns haben heute schlaflose Nächte, weil wir nicht glauben konnten, dass wir nichts mitbekommen haben. Die Atmosphäre haben wir mitbekommen, regelrecht eingeschlürft. Auch kleinere Taten gehörten zum Alltag: Mal eine Kopfnuss oder dass ein Lehrer einen Schlüssel geworfen hat. Aber dieses Ausmaß, in dem wir steckten, das haben wir nicht mitbekommen. Völlig unglaublich!
Heute fangen deshalb einige von uns an, sich selbst zu misstrauen, der eigenen Erinnerung zu misstrauen. Dazu die Schuldgefühle. Habe ich weggeguckt? Habe ich was gesehen und wollte es nicht sehen, hätte ich etwas sehen müssen und habe es nicht gesagt? Dann gräbt man in sich und findet nichts. Trotzdem glaubt man seinen eigenen Erinnerungen nicht. Das geht teilweise so weit, dass man glaubt, sich nicht mehr erinnern zu können, dass man doch irgendwann selbst auch was mit abbekommen hat. Ich würde trotzdem behaupten: Ich habe nichts direkt abbekommen. Trotzdem ist da dieser Zusammenbruch des eigenen Selbstvertrauens.

Der Schriftsteller Reinhard Reich war Schüler in Ettal.
Frage: Wie sind Sie selbst nach Ettal gekommen?
Reich: Ich bin erst recht spät nach Ettal gekommen, erst nur als Schüler tagsüber, dann zog ich ins Internat. Ich wollte dort hin, weil ich mich dort eigentlich wohlgefühlt habe. Das ging nicht nur mir so, es war für ganz viele eine sehr wichtige und gute Zeit. Das geht so weit, dass sogar direkte Opfer sagen: Es war für sie auch eine gute Zeit. Es war eine gute Zeit und es ist der Missbrauch passiert. Dieses "und" und nicht "aber" zu sagen, nicht alles schwarz-weiß zu sehen, das auszuhalten ist wahnsinnig schwierig. Das war vor zehn Jahren die Kritik an denen, die an die Öffentlichkeit gegangen sind: Von Nestbeschmutzern war da die Rede und dass es doch auch viel Gutes gab – und das stimmt auch. Es geht nicht darum, jetzt die ganze Vergangenheit kaputt zu machen.
Frage: Wie war die Atmosphäre dort im Alltag?
Reich: Man akzeptiert sofort die Regeln, wenn man dort ist. Zu diesen Regeln gehörten auch Dinge, die man heute mittelalterlich findet: Lange barfuß auf dem nackten Stein im Gang stehen etwa, oder die ein oder andere Ohrfeige. Das, von dem ich heute weiß, dass es der Missbrauch war, hat sich nur in kleinen Gesten angekündigt, die wir Kinder und Jugendliche oft ins Lächerliche gezogen haben: Manche Lehrer haben wir mit kleinen Schimpfwörtern beschrieben, die Kleriker als Schwarze oder Schwule, ohne dass man je konkret daran gedacht hätte, dass wirklich etwas passiert. Natürlich war der ein oder andere Priester etwas zu freundlich, aber das hatte mit elterlicher Wärme nie etwas zu tun, das war uns auch allen klar. Ich erinnere mich an einen kleinen Vorfall beim Zubettbringen. Aber das schiebt man dann so weg. In der Gemeinschaft zieht man es ins Lächerliche und es entsteht nur eine kleine Peinlichkeit. Das war es dann schon wieder. Wenn ich heute sehe, wie meine Kinder offen über solche Dinge sprechen wird mir erst klar, wie verklemmt insgesamt die Situation war und wie verklemmt wir waren.
Frage: In Ihren Texten rekurrieren Sie auf den Rosenkranz und andere Gebete, das Buch ist sogar in Gesätze unterteilt. Wie sind Sie zu dieser sprachlichen Form gekommen?
Reich: Ich habe über ein Jahr an dem Buch gearbeitet und es am Anfang in freier Form versucht. Das hat aber nicht funktioniert. Dann hat sich diese Form der Bittgebete angeboten. Denn sie tragen ein Paradox in sich: Wer diese Mariengebete spricht, bittet um Hilfe. Ave Maria und Vaterunser sind aber zugleich die traditionellen Gebete, die man nach der Beichte auferlegt bekommt. Man ruft also quasi die Instanz um Hilfe an, unter deren Dach der Missbrauch passiert ist.

Im Buch hat sich Reich unter anderem am Rosenkranz orientiert.
Frage: Ist das also auch eine Glaubensarbeit?
Reich: Mit dem Glauben selbst hat es nichts zu tun, sondern mit der Instanz Kirche, die diese Sprechformen ritualisiert hat. Ich habe gemerkt, dass es nur in dieser ritualisierten Sprechform überhaupt möglich wird, an diese Erinnerungen heranzukommen und sich in dieses Gefühl reinzugeben, empathisch für Schattierungen zu werden. Ich hatte mir damit die Länge und Form vorgegeben – und mich dennoch schwergetan. Das merkt man den Texten an: Der Sprecher tut sich wahnsinnig schwer, auch mit diesen blasphemischen Ausdrücken.
Dabei ist eigentlich der Missbrauch blasphemisch und nicht das Sprechen darüber. Die Formen der Gebete, die dieser Sprecher fast manisch einhält und befolgt, weil er nicht davon loskommt – das sagt ja etwas aus. Aber es kommen immer die anderen Inhalte dazwischen.
Frage: Sie arbeiten oft mit Gleichklängen, wenn es etwa in einer Glaubensbekenntnispassage statt "aufgefahren in den Himmel" "abgefahren auf den Pimmel" heißt. Das ist Pennälerhumor, aber auch ein Ventil?
Reich: Ganz genau. Humor ist ein Ventil – Alkohol aber auch. Das kommt auch in den Texten vor.
Frage: Wenn Sie sich mit diesen Gebetsformen beschäftigt haben: Hat sich Ihnen beim Schreiben auch die Gottesfrage gestellt?
Reich: Nein, es ging nur um die Institution Kirche oder um einzelne Vertreter. Es ging nicht um Glaubensfragen, die muss jeder für sich allein entscheiden. Ich war schon immer ein nichtgläubiger Mensch. Aber ich habe mich sehr interessiert für diese Fragen, habe in katholischer Religion sogar mein Abitur gemacht – als Protestant. Es ist aber ein intellektuelles Interesse.
Frage: Haben Sie einen Wunsch, ob und wenn ja, was dieses Buch bewirken soll?
Reich: Ich wollte eine Art der Bearbeitung und Präsentation bieten, die emotional ist und sich deutlich abhebt von anonymen Interviews in der Zeitung oder einem psychologischen Mammutgutachten. Dass sie es vielleicht vielen Menschen ermöglicht, sich emotional darauf einzulassen. Klar, manche können damit nichts anfangen, weil es Lyrik ist. Aber manchmal hat Lyrik vielleicht doch die Kraft, Bereiche in einem Leser anzustoßen, an die man mit einem normalen Aussagesatz nicht kommt. Eigentlich stelle ich mir das Lesen des Buches als ein Gespräch des Lesenden mit sich selbst vor, mit der eigenen Empathie, die vielleicht auch die Öffentlichkeit immer noch wegdrängt.
Buchtipp
Reinhard Reich: "shamen. ein rosenkranz", kookbooks 2022