Wenn Gebete berühmten Heiligen zugeschrieben werden

"Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens" – mit diesen Worten beginnt ein populäres Gebet, das viele Menschen mit Franz von Assisi verbinden. Das Problem dabei: der heilige Franziskus ist nicht der Autor dieser Zeilen. "Schon allein mit Blick auf die Sprache, kann Franz nicht der Autor des Gebets sein", sagt Bruder Niklaus Kuster. Der Kapuziner muss es wissen, denn als Dozent für Spiritualitätsgeschichte mit dem Schwerpunkt auf der franziskanischen Bewegung ist er ein Experte für den Heiligen aus Assisi. "Es gibt zwar überlieferte mündliche Ermahnungen von Franziskus, die sehr ähnlich klingen", weiß Kuster. Aber das Friedensgebet spiegele eindeutig die Sorgen moderner Menschen in Anbetracht der Bedrohung durch Krieg wider.
Ein Gebet von Franziskus – aus dem 20. Jahrhundert?
Und tatsächlich stammt das sogenannte Friedensgebet des heiligen Franziskus aus dem 20. Jahrhundert. Der Text lässt sich bis ins Jahr 1912 zurückverfolgen, als er erstmals in einer spirituellen Zeitschrift in Frankreich veröffentlicht wurde. Der Name des Autors ist unbekannt, es könnte aber der Gründer der katholischen Vereinigung "La Ligue de la Sainte-Messe" ("Die Liga der Heiligen Messe") aus Paris sein, die die Zeitschrift herausgab. Weltbekannt wurde das Friedensgebet während des Ersten Weltkriegs (1914-18): Ein Jahr nach Kriegsausbruch erhielt Papst Benedikt XV. (1914-22) Kenntnis von dem auf Französisch verfassten Text und ließ im Januar 1916 eine italienische Übersetzung auf der Titelseite der Vatikan-Zeitung L'Osservatore Romano veröffentlichen.
Die Verbindung zu Franz von Assisi wurde dem Gebet einige Jahre später angedichtet: Ab 1927 zirkulierte der Aufruf zum Frieden in den USA, wo er erstmals mit "A Prayer of Saint Francis" ("Ein Gebet des heiligen Franziskus") überschrieben wurde. Während des Zweiten Weltkriegs (1939-45) verteilte der damalige Oberhirte von New York und Militärbischof, Erzbischof Francis Spellman, Millionen von Zettelchen mit dem nun Franz von Assisi zugeschriebenen Gebet. Sogar im US-Kongress wurde es verlesen. Seine Popularität wuchs immer mehr – der britische Komponist John Rutter vertonte das Gebet sogar – und hält bis heute an.

"Bau meine Kirche wieder auf": Auch dieser Traum des Franziskus von Assisi stammt wohl nicht vom Heiligen selbst.
Für den Spiritualitäts-Experten Kuster ist es nichts Ungewöhnliches, dass beliebte geistliche Texte und Gebete bekannten Heiligen zugeschrieben werden. "Das kann man bis ins Neue Testament zurückverfolgen: Dort stammen etliche der paulinischen Briefe nicht vom Apostel Paulus", so der Schweizer. "Auch Hildegard von Bingen wurden Bücher zugeschrieben, die sich mit Heilkunde oder Magie beschäftigen, aber nicht von sind." Gleiches gelte auch für die Leidensmystik unter dem Namen der Katherina von Siena oder dem "Gebet um Humor", das angeblich von Thomas Morus verfasst wurde – und sogar bei Papst Franziskus große Popularität genießt: Er bete es seit mehr als 40 Jahren jeden Tag, sagte das Kirchenoberhaupt vor einigen Monaten.
"Erhoffen sich größere Verbreitung"
"Dieses Phänomen hält bis heute an", so Kuster. Die beliebten irischen Segengrüße würden "weichgespült" wirken und hätten nur noch wenig mit den ursprünglichen keltischen Texten zu tun, die eine "herbere" Sprache hätten. "Aber auch Meditationen zeitgenössischer geistlicher Autoren, wie Anton Rotzetter, Anselm Grün oder Andrea Schwarz, kursieren in deutlich veränderter Form unter ihrem Namen in Büchern oder im Internet." Für Kuster ist klar, warum manche Autoren ihre Texte unter dem Namen bekannter Personen veröffentlichen: "Sie erhoffen sich dadurch mehr Erfolg und eine größere Verbreitung."
Das muss nicht unbedingt problematisch sein, findet der Theologe. Denn meistens würden diese Texte in der gedanklichen oder spirituellen Tradition des vermeintlichen Verfassers stehen. "Deshalb plädiere ich dafür, dass klar geschrieben wird, dass es etwa ein Gebet 'im Geist' oder 'nach' dieser oder jener Person ist." Wenn das klar kommuniziert wird, können diese Texte auch bedenkenlos in Seelsorge oder Liturgie verwendet werden, findet Kuster. "Im Gotteslob wird dieser weg etwa schon gegangen." Man könne auch transparent machen, dass ein Text für eine bestimmte Zeit einem Autor zugeschrieben worden sei, man heute aber wisse, dass es sich in Wahrheit anders verhalte. "Das ist dann manchmal auch eine heilsame Enttäuschung."

Die Basilika San Francesco in Assisi.
Oft werde er als Dozent für franziskanische Spiritualität gefragt, ob bestimmte Zitate von Franziskus historisch verbürgt seien – was er dann oft verneinen muss. "Ein Beispiel dafür ist der berühmte franziskanische Segensspruch 'Pax et bonum'", sagt Kuster. "Aus den geschichtlichen Quellen wissen wir, dass Franziskus beide Begriffe oft gebraucht hat, aber eben nicht zusammen." Erst mehrere Jahrzehnte nach Franz' Tod wird der Segensgruß in einer inoffiziellen Gefährtenlegende bezeugt und dem Heiligen aus Assisi in den Mund gelegt. "Dabei stammt der Gruß wahrscheinlich von einem Vorläufer des Franziskus – doch heute gilt er als das franziskanische Motto schlechthin."
Die Tatsache, dass mehrere Legenden und Zitate von Franziskus oder anderen Heiligen nicht authentisch sind, ist für Gläubige unter Umständen eine schmerzhafte Erfahrung. "Ich werde teilweise angegangen und scharf kritisiert, wenn ich über diese wissenschaftlichen Erkenntnisse der Franziskus-Forschung sprechen", sagt der Kapuziner. "Du raubst uns unsere geistlichen Grundlagen", sei die Kritik, die an ihn herangetragen werde. Kuster hat Verständnis für dieses Verhalten, wenn liebgewonnene Gebete und spirituelle Texte sich als nicht historisch entpuppten. Doch er tritt für einen aufgeklärten Glauben ein. "Dadurch können sie sogar an Wert gewinnen", glaubt der Theologe. "Denn nur wenn es in erster Linie um das Gebetsanliegen geht und nicht um den vermeintlichen berühmten Verfasser, ist aufrichtiges Bitten möglich."