Theologe: Ständige Aktualisierung ist das, was Kirche am Leben erhält

"Im großen Wandel unserer Kirchen steht Gründergeist für den Aufbruch nach vorne", heißt es auf der Website der Bewegung "Gründergeist". Hinter dem Projekt stehen mehrere Bistümer und evangelische Landeskirchen in Baden-Württemberg. Was mit der Initiative erreicht werden soll und warum es Pionierinnen und Pioniere in der Kirche braucht, erklärt Tobias Aldinger im katholisch.de-Interview.
Frage: Herr Aldinger, gemeinsam mit weiteren Bistümern und evangelischen Landeskirchen im Südwesten haben Sie das Projekt "Gründergeist" gestartet. Was wollen Sie damit erreichen?
Aldinger: "Gründergeist" ist eine Initiative für Menschen, die Kirche bewegen und neue Formen von christlichem Glauben stärken wollen. Unser Anliegen ist es, dass wir die Menschen stärken, verbinden und einfach ein Netzwerk von Verbündeten aufbauen wollen, die sagen: Wir bringen Kirche in die Zukunft.
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Frage: Was ist dabei das Ziel?
Aldinger: Das Ziel ist, dass die Menschen vor Ort in ihren kirchlichen Kontexten frische, neue, lebendige Ausdrucksformen und Gemeinschaftsformen von Kirche initiieren. Dabei geht es immer um die Frage, wie die Kirche passend für die Lebenswirklichkeit der Menschen heute wird. Dafür gibt es viele bewährte und gute Formen, die wir als Kirche schon haben. Aber es ist auch notwendig, neues zu initiieren und dabei zu schauen, was Menschen heute brauchen, um ihren Glauben leben zu können.
Frage: Wie sieht das konkret aus?
Aldinger: Die Idee, solche Gemeinschaftsformen zu stärken, kommt aus der anglikanischen "Fresh-X-Bewegung". Der Gedanke dabei ist, dass man in einem konkreten Kontext schaut, wie das Evangelium dort lebendig wird. Ob Jugendliche oder ältere Menschen, Heavy-Metal-, oder Techno-Fans: Es gibt so viele verschiedene Szenen und Teile der Gesellschaft, in denen sich Menschen bewegen, die sich als Christinnen und Christen verstehen. Die merken oft, dass sie nicht ganz in ihre klassische katholische Gemeinde passen und suchen dann einen Ort, an dem sie ihr Christsein leben können. Diese Menschen wollen wir vernetzen, stärken und sie ermutigen, ihrer Sehnsucht nachzugehen.

Es brauche "ein Miteinander von Tradition und Innovation, eine Verbindung der Schätze des Glaubens mit den heutigen Lebensfragen und Herausforderungen", sagt der Theologe und Pastoralreferent Tobias Aldinger. Er ist Referent für Glaubenskommunikation, Evangelisierung und das diözesane Bonifatiuswerk im Erzbistum Freiburg und Teil des "Gründergeist"-Teams.
Frage: Traditionen und die bekannten Strukturen sind doch die große Stärke der katholischen Kirche. Warum braucht es denn Projekte, die diese Strukturen verlassen?
Aldinger: Die große Stärke des Katholizismus ist die ständige Aktualisierung und "Verheutigung" – so hat es das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) mit dem Wort "Aggiornamento" beschrieben. Diese Inkulturationsleistung ist das, was eine 2.000 Jahre alte Organisation noch immer lebendig hält. Es braucht daher ein Miteinander von Tradition und Innovation, eine Verbindung der Schätze des Glaubens mit den heutigen Lebensfragen und Herausforderungen. Und dazu muss man auch Dinge ausprobieren. Das haben alle großen Kirchenbewegungen und Kirchenväter und -mütter gemacht.
Frage: Wie kommen denn solche Projekte und Initiativen an der Basis an? Sagen da nicht viele: Wir sind mit dem, was wir jetzt schon machen, überfordert?
Aldinger: Das ist ein wichtiger Punkt: Es mangelt oft nicht an Ideen, manchmal auch gar nicht an Geld, sondern meistens an der Ressource Zeit. Viele der Engagierten in Haupt- und Ehrenamt sind am Anschlag und verausgaben sich für ein lebendiges Christsein. Da liegt die große Herausforderung von Leitung, personellen und zeitlichen Freiraum zu schaffen, damit neue Formen ausprobiert werden können. Es braucht also auch den Mut, Dinge sein zu lassen. Wenn das gelingt, dann erlebe ich aber, dass die Menschen, die ihre Ideen und Visionen verwirklichen können, neue Energie bekommen und sagen: Es ist anstrengend, aber ich habe endlich wieder erfahren, wofür es sich lohnt, Kirche zu sein.
„Ich erlebe viele Menschen, die eine Sehnsucht nach einem lebendigen Christsein haben und eine Ermutigung suchen.“
Frage: Was passiert denn, wenn man feststellt: Das neue, innovative Angebot funktioniert doch nicht so, wie wir uns das gedacht haben?
Aldinger: Wenn man merkt, dass keine Kraft drinsteckt und es kein Leben entfaltet, dann lässt man es wieder. Das ist ja genau die Idee dieser Räume zur Erprobung. In der Innovationsforschung wurde festgestellt, dass es diese Mentalität und solche schnellen Zyklen braucht, in denen Dinge ausprobiert und dann auch wieder verabschiedet werden. Das ist gerade in Zeiten wie heute wichtig, wo viele Faktoren nicht mehr so feststehen, wie noch vor 50 Jahren.
Frage: Was sind denn das für Menschen, die sich als Innovatorinnen und Innovatoren engagieren? Was verbindet sie?
Aldinger: Ich erlebe viele Menschen, die eine Sehnsucht nach einem lebendigen Christsein haben und eine Ermutigung suchen. Sie haben keine Lust auf Schlechtreden und wollen sich nicht runterziehen lassen, sondern haben eine "Machermentalität" und wollen Verantwortung übernehmen. Manche sind auch unzufrieden. Das ist ein wunderbarer produktiver Zustand, der Veränderung ermöglicht. Sie suchen die Schuld für den Zustand der Welt und der Kirche nicht irgendwo weit draußen, sondern fragen sich: Welchen kleinen Beitrag kann ich leisten? Und wer sich diese Frage stellt, kommt auf die Spur des Heiligen Geistes.

Bilden das Team der "Gründergeist"-Bewegung (v.l.): Ralf Zimmermann (CVJM), Miriam Hechler (ev. Kirche Württemberg), Helen Härer (CVJM), Susanne Grimbacher (Diözese Rottenburg Stuttgart), Tobi Wörner (ev. Jugendwerk Württemberg), Salome Zeitler (CVJM), Felix Goldinger (Bistum Speyer) Göran Schmidt (ev. Landeskirche Baden), Tobias Aldinger (Erzdiözese Freiburg)
Frage: In den Videos, die Sie im Rahmen Ihres Projektes veröffentlicht haben, geht es immer wieder um Kirchen oder Projekte mit einem ganz bestimmten Schwerpunkt. Inwiefern kann das denn dann ein Beispiel für eine "ganz normale" Pfarrei sein?
Aldinger: Es geht uns darum, eine große Vielfalt und Bandbreite sichtbar zu machen. Viele Menschen können sich oft gar nicht vorstellen, wie Kirche aussehen kann. Dabei muss nicht jeder Kirchort eine Heavy-Metal-Kirche oder ein Angebot für neue Lebensgemeinschaften einführen. Gerade in größeren pastoralen Räumen gibt es die Möglichkeit, in einem größeren regionalen Umfeld zu schauen, welche Schwerpunkte man setzen möchte – passend zu den Menschen, die dort leben. So können dann bestimmte Personalgemeinden entstehen, die einen bestimmten Stil und eine bestimmte Ästhetik ansprechen. Daher ist unsere Initiative auch ökumenisch angelegt, weil wir auf den Spuren Jesu Christi alle in dieselbe Richtung gehen – auch wenn die Ausdrucksformen unterschiedlich sind.
Frage: Sie sprechen pastorale Räume an: Bei Ihnen im Erzbistum Freiburg sollen bis 2026 36 Großpfarreien entstehen. Welchen Einfluss hat Innovation auf diese Pfarreiformen? Müssen solche Pfarreien automatisch innovativ sein – oder geht das allein aufgrund der Größe gar nicht?
Aldinger: Auf der Ebene des Erzbistums werden aktuell strategische Impulse gesetzt. Ein Impuls ist beispielsweise, stärker in einem übergreifenden Rollenportfolio der Mitarbeitenden und nicht in einzelnen Aufgaben zu denken. Dabei soll bewusst auch die Rolle "Pionier/Pionierin" mitgedacht werden. Diese Rolle muss noch weiterentwickelt und Mitarbeitende dafür qualifiziert werden. Seit 2016 gibt es auch einen diözesanen Innovationsfonds zur Förderung neuer Formate und Projekte in Seelsorge und Pastoral. Weiter gibt es einige Orte, die Innovation ganz bewusst als Thema in ihre Gründungsvereinbarung für die neue Pfarrei mit aufgenommen haben. In den im Mai veröffentlichten Maßnahmen zur Umsetzung der Diözesanstrategie werden ebenfalls Innovationsaspekte wie beispielsweise "Qualifizierungsmaßnahmen für pastorale Innovation und Gemeindegründung" benannt. Dazu wird die Empfehlung an die Pfarreien gegeben, in jedem Seelsorgeteam mindestens eine Person mit Schwerpunkt für pastorale Innovation und Gemeindegründung zu haben.