Pontifex seit sechs Monaten im Amt

Papst Leo XIV.: Leichtmatrose oder Hoffnungsträger für die Kirche?

Veröffentlicht am 08.11.2025 um 00:01 Uhr – Von Gabriele Höfling – Lesedauer: 

Bonn ‐ Ein halbes Jahr nach seiner Wahl sind einige Konturen des Pontifikats Leos XIV. erkennbar: die ersten Lehrschreiben sind da, er hat sich zu den "heißen Eisen" der Kirche positioniert. Die Bewertungen seines Wirkens gehen aber weit auseinander – zumal einige wichtige Weichenstellungen noch auf sich warten lassen.

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Kürzlich sagte Papst Leo XIV., die oberste Regel der Kirche sei die Liebe. "Niemand ist dazu berufen, zu befehlen, alle sind dazu berufen, zu dienen; niemand darf seine Ideen aufzwingen, wir alle müssen einander zuhören; […] niemand besitzt die ganze Wahrheit, wir alle müssen sie in Demut suchen, und zwar gemeinsam", betonte der Papst - durchaus bescheidene Worte für einen Mann, der als unfehlbarer Oberhirte an der Spitze einer streng hierarchischen Institution steht.

Doch sie passen gut zu der Art des ersten US-Amerikaners und Augustiners im Papstamt. In den ersten sechs Monaten fiel Leo anders als sein Vorgänger jedenfalls nicht durch laute und kantige Statements auf. Während Franziskus seine Presseabteilung mit seinen spontanen Wortmeldungen gern einmal ins Schwitzen brachte, setzt Leo auf leise, sorgfältig abgewogene Töne – ganz im Sinne der augustinischen Spiritualität, die gemeinsames Entscheiden, Zuhören und echtes Interesse am Gegenüber betont. In der Konsequenz gelingt es Leo (nach einem Anfangshype) aber auch weniger als seinem Vorgänger, in die "weltlichen" Schlagzeilen durchzudringen, so dass es dort inzwischen deutlich ruhiger geworden ist um den früheren Kardinal Robert Francis Prevost.

Rätselraten unter Papstkennern und Vaticanisti

Unter Papstkennern und Vaticanisti herrschte zunächst ein gewisses Rätselraten, in welche Richtung Leo sein Pontifikat inhaltlich lenken würde. Inzwischen hat er sein erstes offizielles Lehrschreiben veröffentlicht: die Apostolische Exhortation "Dilexi Te" über den Einsatz der Kirche für die Armen – basierend noch auf den Notizen von Franziskus. Themen wie soziale Verantwortung und Frieden sind Päpsten schon lange ein wichtiges Anliegen. Auch Leo begleiten sie von Anfang an: Schon bei seiner ersten Ansprache auf der Loggia des Petersdoms appellierte er eindringlich an den Frieden in der Welt. Sei es der Sudan oder der Nahe Osten: Leo lässt keinen Konflikt unerwähnt. Ende Oktober sandte er zusammen mit Vertretern anderer Religionen vor der beeindruckenden Kulisse des römischen Kolosseums einen Friedensappel in die Welt. Die "Erziehung zum Frieden" kommt sogar in seinem zweiten bisher veröffentlichten Lehrschreiben vor, in dem es hauptsächlich um die Zukunft katholischer Schulen geht. Dort wie in anderen Bereichen sieht Leo die Künstliche Intelligenz als DIE Herausforderung der Zukunft, mit der sich auch die Kirche auseinandersetzen muss.   

Leo XIV.
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani

Papst Leo XIV. steht am Abend des 8. Mai 2025 auf dem Balkon der Loggia des Petersdoms im Vatikan. Die Kardinäle haben Kardinal Robert Francis Prevost zum Papst gewählt.

Im Hinblick auf den innerkirchlichen Kurs ist das erste große Interview Leos XIV. aufschlussreich. Er gab es Mitte September einer ihm bekannten Journalistin des US-Kirchenportals "Crux". Auch die in der Kirche bekannten "heißen Eisen" kamen zur Sprache. Leos Äußerungen scheinen in eine eher konservative Richtung auszuschlagen: Er zeigt sich zwar offen für Frauen in kirchlichen Leitungspositionen, der Öffnung eines Weiheamtes für Frauen erteilt er aber eine Absage. Er will in der Kirche alle willkommen heißen und niemanden ablehnen – spricht sich aber gegen eine Lockerung der kirchlichen Sexuallehre aus und betont die Ehe zwischen Mann und Frau sowie die klassische Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Explizit kritisiert Leo Segensfeiern für Homosexuelle in Nordeuropa, die gegen das von Papst Franziskus genehmigte Dokument "Fiducia Supplicans" verstießen. Damit dürfte auch die Deutsche Bischofskonferenz mit ihrer Handreichung für solche Segensfeiern aus dem April dieses Jahres angesprochen sein – zumal dem Interview eine teilweise öffentliche Debatte darüber folgte, ob die Handreichung im Vorhinein mit Rom abgesprochen war oder nicht. Insgesamt scheint Leos Kurs, zwar Offenheit für bestimmte Anliegen zu zeigen, gleichzeitig aber an der kirchlichen Lehre nicht zu rütteln, seine Strategie zu sein, um die Polarisierung in der Kirche nicht weiter voranzutreiben.

Noch immer gestritten wird auch um den richtigen Umgang mit der Vorkonziliaren Messe. Dieser scheint Leo letztlich positiver gegenüberzustehen als sein Vorgänger. Das zeigt symbolisch ein Gottesdienst Ende Oktober im Petersdom. Das erste Mal seit fünf Jahren wurde da eine Messe im vorkonziliaren Ritus gefeiert –  ausgerechnet unter der Leitung des US-Kardinals Raymond Leo Burke, dem größten Gegenspieler von Papst Franziskus, der die Feier im Tridentinischen Ritus 2021 deutlich eingeschränkt hatte.

Irritierende Aussagen zum Missbrauchsskandal

Eins der pulsierenden Themen der Weltkirche ist derzeit die Synodalität. Diesem Herzensanliegen seines Vorgängersfühlt sich Leo weiter verpflichtet. Als Präfekt des Bischofsdikasteriums nahm er aktiv an der Weltsynode teil und sieht Synodalität als "neuen Stil" der Kirche, als einen "Weg, um einige der größten Herausforderungen anzugehen, denen wir heute in der Welt gegenüberstehen". Aber auch das stellt Leo XIV. klar: Die Kirche in eine Art demokratischen Regierungsapparat zu verwandeln, kann er sich nicht vorstellen.

Mit die größte Herausforderung auch dieses Pontifikats dürfte aber die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals werden. Doch ausgerechnet bei diesem sensiblen Thema sorgten einige Äußerungen Leos für Irritationen. Dem Portal "Crux" sagt er, die Kirche dürfe sich vom Missbrauchsskandal nicht "vollständig in Beschlag nehmen lassen", das entspreche nicht ihrem Auftrag. Die große Mehrheit der Geistlichen habe nie jemanden missbraucht, Geistliche müssten vor falschen Anschuldigungen geschützt werden. Wollte Leo die Verantwortung der Kirche so relativieren? Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf setzte an diese Aussagen des Papstes zumindest ein Fragezeichen. Schließlich sei sexualisierte Gewalt "ein Verbrechen am Menschen und ein Verrat am Evangelium". Weniger konfliktbeladen lief für Leo XIV. dann ein Treffen mit Missbrauchsbetroffenen im Vatikan. Der Pontifex habe sich Zeit genommen und aufmerksam zugehört, sagten Betroffenenvertreter im Anschluss.

Papst Leo XIV. steht an einem Teich bei der Einweihung des Nachhaltigkeitszentrums "Borgo Laudato Si"
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani

Wenn möglich, reist Papst Leo XIV. regelmäßig einmal pro Woche nach Castel Gandolfo.

Dass sich Leo stilistisch von seinem Vorgänger Franziskus unterscheidet, lässt sich nicht nur an der Art seiner Wortmeldungen ablesen. Während Franziskus alle Insignien der Macht strikt ablehnte und stets ein silbernes Brustkreuz trug, greift Leo schon mal zu Gold und akzeptiert auch den traditionellen Ringkuss als Demutsgeste der Gläubigen. Anders als Franziskus will er nach abgeschlossener Renovierung auch wieder in den Apostolischen Palast ziehen. Rote Schuhe, wie sie noch Benedikt XVI. nutzte, trägt er aber nicht. Wie sein Vorvorgänger besucht Leo wieder Castel Gandolfo – und das in überraschender Regelmäßigkeit: Während Franziskus Teile der Päpstlichen Sommerresidenz zum Museum machen ließ, verbrachte Leo dort nicht nur seinen Urlaub, sondern reist seitdem regelmäßig von Montagnachmittag bis Dienstagabend in die Albaner Berge.

Warten auf Enzyklika und Personalentscheidungen

Auch wenn nach einem halben Jahr bereits Konturen zu Regierungsprogramm und -stil des 70-jährigen Papstes erkennbar sind, gehen die Bewertungen weit auseinander. Kritiker halten Leo vor, blass zu bleiben. Wohl mit am deutlichsten formulierte das der emeritierte Salzburger Dogmatikprofessor Hans-Joachim Sander. Er bezeichnete Leo XIV. als "Leichtmatrosen" auf der Kommandobrücke des schlingernden Kirchenschiffs. Die aktuellen Herausforderungen, allen voran der Missbrauchsskandal seien aber zu groß, um sie auszusitzen. Positiv bewertet dagegen der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer die erste Zeit des Pontifex: der Papst sei "großartig gestartet. Er hört zu, er schaut Menschen ins Gesicht", sagte er kürzlich im Deutschlandfunk.

Tatsächlich ist es für eine wirklich grundlegende Bewertung von Leos Wirken nach sechs Monaten wohl noch etwas früh. Viele wichtige Meilensteine stehen noch aus – so wird seine erste Enzyklika, das päpstliche Schreiben mit der höchsten Verbindlichkeit, sicher weiteren Aufschluss geben. Das gleiche gilt für anstehende wichtige Personalentscheidungen im Vatikan, wie etwa die Frage, ob Leo an dem umstrittenen Glaubenspräfekt Kardinal Victor Fernandez festhält. Er hatte laut Beobachtern in der Vergangenheit durch seine Entscheidungen eher zu Unfrieden als zu Versöhnung in der Kirche beigetragen. Schon bald steht die erste Auslandreise des Pontifex an. Ende des Monats fliegt er zur Feier des 1.700-jährigen Jubiläums des Konzils von Nizäa in die Türkei und anschließend weiter in den Libanon – zwei muslimisch geprägte Länder am Rand des Konfliktherds des Nahen Ostens mit innenpolitisch bisweilen schwierigen Verhältnissen. Man darf gespannt sein, welche die Akzente Leo XIV. auf diesem politisch wie religiös anspruchsvollem Terrain setzt.

Von Gabriele Höfling