Neher: Die CDU sollte ihren christlichen Markenkern wieder stärken
Der Rottenburger Oberbürgermeister Stephan Neher gehört zu den Erstunterzeichnern der neuen CDU-Initiative "Compass Mitte". Sie will die Partei zu einem Kurswechsel bewegen – weg von einer Annäherung an die AfD, zurück zu einem christlichen, liberalen Kurs. Im katholisch.de-Interview spricht Neher über seine Beweggründe, die Bedeutung des "C" im Parteinamen, die bisherigen Reaktionen auf die Initiative und seine Sorgen um die Zukunft der Union.
Frage: Herr Neher, warum haben Sie sich als einer der Erstunterzeichner der Initiative "Compass Mitte" angeschlossen?
Neher: Die Initiative wurde unter anderem von Monica Wüllner aus dem CDU-Bundesvorstand mitgegründet, die ich schon aus gemeinsamen Zeiten in der Jungen Union kenne. Sie kennt meine Haltung zur CDU ebenso wie meine Positionen in zentralen Fragen wie etwa der Flüchtlingspolitik. Als sie mich gefragt hat, ob ich mich als Erstunterzeichner an "Compass Mitte" beteiligen möchte, habe ich mir die inhaltlichen Punkte der Initiative angeschaut und festgestellt: Das entspricht genau meiner Vorstellung davon, wie die CDU inhaltlich aufgestellt sein sollte. Deshalb war für mich schnell klar, dass ich von Anfang an dabei sein möchte.
Frage: Was bereitet Ihnen mit Blick auf Ihre Partei derzeit die größte Sorge?
Neher: Mich beunruhigen vor allem diejenigen Stimmen in der Partei, die eine Aufweichung der Brandmauer zur AfD als ernsthafte Option etablieren wollen – etwa in Form einer von der AfD unterstützten Minderheitsregierung oder in Form gemeinsamer Abstimmungen über einzelne Gesetzesvorhaben. Allein, dass solche Überlegungen laut ausgesprochen werden, zeigt: Es gibt offenbar Leute in unserer Partei, die genau das befürworten. Für mich ist aber klar: Eine Zusammenarbeit mit radikalen Kräften darf es weder nach rechts zur AfD noch nach links zu Sarah Wagenknecht oder ähnlichen Figuren geben. Mit Extremisten ist kein Staat zu machen!
Frage: Sie sprechen die Brandmauer zur AfD an. Wie groß ist Ihre Sorge, dass diese Mauer tatsächlich bald fällt?
Neher: Schon jetzt sehen wir in manchen Kommunalparlamenten, dass die klare Abgrenzung zur AfD bröckelt. Die eigentliche Bewährungsprobe kommt aber im nächsten Jahr mit den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Wenn dort keine stabilen demokratischen Mehrheiten mehr zustande kommen, wird die Debatte in unserer Partei weiter an Fahrt gewinnen, eine wie auch immer geartete Kooperation mit der AfD einzugehen. Manche argumentieren, man müsse die AfD "entzaubern", indem man sie in politische Verantwortung bringt. Diese Meinung hat Anfang der 1930er Jahre schon der Zentrumspolitiker und Rottenburger Ehrenbürger Eugen Bolz vertreten; auch er war überzeugt, radikale Kräfte würden in Regierungsverantwortung ihre Extreme verlieren. Die Geschichte hat gezeigt, dass das ein fataler Irrtum war.
„Wer die Positionen der AfD übernimmt, stärkt am Ende nur das Original – das gilt vor allem in der Migrationspolitik.“
Frage: Kritiker sagen, dass die Union unter Friedrich Merz vor allem in der Migrationspolitik weitgehend die Positionen der AfD kopiert – mutmaßlich mit dem Ziel, die AfD auf diese Weise zu bekämpfen. Angesichts der Umfragewerte der vergangenen Wochen muss man allerdings feststellen, dass das nicht funktioniert. Ist der aktuelle Kurs der Union in der Migrationspolitik also ein Fehler?
Neher: Ja, eindeutig. Wer die Positionen der AfD übernimmt, stärkt am Ende nur das Original – das gilt vor allem in der Migrationspolitik. Die CDU kann den Wettbewerb mit der AfD bei diesem Thema nicht gewinnen: Egal wie migrationskritisch die CDU auftritt – die AfD wird noch radikaler auftreten und immer erklären, dass sie, wenn sie selbst Regierungsverantwortung innehätte, noch viel mehr Menschen abschieben würde. Hinzu kommt, dass die CDU als christliche Partei massiv an Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie versucht, die AfD bei diesem Thema rhetorisch zu überbieten.
Frage: Das heißt, auch in der aktuellen Debatte um Abschiebungen nach Syrien würden Sie sich von Ihrer Partei mehr Empathie für die Geflüchteten wünschen?
Neher: Natürlich müssen wir auch über Abschiebungen sprechen – vor allem bei Straftätern. Ich denke, dass das unstrittig ist. Die große Mehrheit der Geflüchteten in Deutschland ist jedoch vor Krieg und Verfolgung geflüchtet. Da sind Abschiebungen rechtlich wie humanitär meist gar nicht möglich. Ich glaube, die Union tut sich keinen Gefallen, wenn Sie erst lautstark ankündigt, bald ganz viele Menschen nach Syrien abzuschieben – nur um dann feststellen zu müssen, dass das in der Realität so gar nicht möglich ist.
Frage: Der Appell von "Compass Mitte" betont direkt zu Beginn die Bedeutung des christlichen "C" im Parteinamen. Was bedeutet Ihnen persönlich das "C" und welche Verpflichtung geht aus Ihrer Sicht mit diesem Buchstaben einher?
Neher: Das "C" erinnert uns daran, dass jede politische Entscheidung auf dem christlichen Menschenbild beruhen sollte. Politik ist, wie Eugen Bolz einmal gesagt hat, immer auch gelebte christliche Verantwortung. Das heißt nicht, dass die CDU eine kirchliche Partei wäre – das ist sie ausdrücklich nicht. Aber das "C" verpflichtet uns, bei allen Themen – auch in der Flüchtlingspolitik – die Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Man kann sich das "Christliche" nicht nach Belieben herauspicken. Wenn wir uns auf das "C" berufen, dann gilt es in allen Politikfeldern.
Unter ihrem Parteivorsitzenden Friedrich Merz hat die CDU einen Rechtskurs eingeschlagen.
Frage: In den vergangenen Jahren gab es parteiintern viele Debatten und auch Streit um das "C"; inzwischen ist es diesbezüglich etwas ruhiger geworden. Dennoch wird auch die CDU säkularer und christliche Positionen sind in Ihrer Partei heute nicht mehr automatisch mehrheitsfähig. Wie christlich ist die CDU noch?
Neher: Natürlich spüren wir, dass der christliche Glaube in der Gesellschaft insgesamt schwächer wird. Aber viele Menschen, auch solche ohne kirchliche Bindung, halten christlich geprägte Werte wie Nächstenliebe, Solidarität und Verantwortung nach wie vor für zentral. Ich bin zudem davon überzeugt, dass wir heute in vielerlei Hinsicht die christlichste Gesellschaft aller Zeiten haben: Menschen ohne gesichertes Einkommen werden unterstützt, Arbeitslose und Menschen mit Behinderung erhalten Hilfe, niemand soll ohne Krankenversicherung leben müssen. Diese sozialen Sicherungssysteme sind Ausdruck christlicher Traditionen und Werte. Die CDU täte gut daran, sich wieder stärker darauf zu besinnen, dass es nicht nur darum gehen kann, dass der Stärkere sich durchsetzt, sondern dass wir als Gesellschaft solidarisch zusammenhalten. Das ist unser Markenkern – und der sollte wieder deutlicher betont werden, statt vor allem die Positionen anderer Parteien zu kopieren.
Frage: Das einst enge Verhältnis Ihrer Partei zu den Kirchen hat in der jüngsten Vergangenheit gelitten, immer wieder treten Meinungsverschiedenheiten bei relevanten Politikfeldern offen zu Tage. Wie nehmen Sie aktuell das Verhältnis Ihrer Partei zu den Kirchen wahr?
Neher: Ich empfinde das Verhältnis derzeit als belastet. Wenn etwa Steffen Bilger, der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, sagt, die Kirchen sollten sich zu politischen Fragen nicht äußern, ist das hochproblematisch. Die Kirchen haben selbstverständlich den Auftrag, sich im Sinne des Evangeliums zu Wort zu melden – gerade auch mit Blick auf die Schwächsten unserer Gesellschaft. Ich begrüße es zudem ausdrücklich, wenn die Kirchen auch einmal konträr zur CDU Position beziehen. Vielleicht sollte sich die Partei dann eher fragen, warum das so ist. Wenn das "C" im Parteinamen ernst genommen würde, gäbe es solche Spannungen nicht.
Frage: Welche persönlichen Reaktionen haben Sie seit der Veröffentlichung des Appells bekommen?
Neher: Sehr viele positive. Viele Mitglieder – aber auch Ausgetretene – haben mir geschrieben, dass sie froh sind, endlich eine laute Stimme aus der Mitte der Partei gegen den zunehmenden Rechtskurs zu hören. Einige sagen sogar, sie könnten sich eine Rückkehr in die CDU vorstellen, wenn der Kurs der Partei sich wieder stärker an christlich-liberalen Werten orientieren würde. Das Ziel von "Compass Mitte" ist es, die CDU in der Mitte zu halten. Ich hoffe, dass eine entsprechende Kurskorrektur noch möglich ist.
„"Compass Mitte" will die CDU nicht schwächen – im Gegenteil: Wir wollen, dass sie wieder als Volkspartei der Mitte wahrgenommen wird.“
Frage: Von der Parteispitze kam bislang keine Reaktion auf Ihren Vorstoß. Hat Sie das überrascht?
Neher: Nicht wirklich. Ich denke, die Führung wartet erst einmal ab, ob "Compass Mitte" mehr ist als eine kurzfristige Initiative. Aber unser Netzwerk besteht längst – quer durch die Bundesländer, auch mit Unterstützern aus Ostdeutschland, worüber ich mich sehr freue. Wir wollen zeigen, dass es in der ganzen Partei Menschen gibt, die sich eine Kurskorrektur wünschen. Wenn die Zahl der Unterstützer wächst, wird sich die Parteiführung dem nicht dauerhaft entziehen können.
Frage: Befürchten Sie nicht, dass Ihre Initiative die CDU schwächt? Parteiinterner Streit wird von den Wählerinnen und Wählern schließlich in aller Regel nicht honoriert ...
Neher: Das stimmt, und diese Kritik nehme ich auch an. Aber wenn innerhalb der Partei und auch öffentlich Positionen vertreten werden, die die CDU immer weiter nach rechts führen, dann müssen auch wir uns zu Wort melden und zeigen, dass nicht alle Mitglieder diesen Kurs mittragen. "Compass Mitte" will die CDU nicht schwächen – im Gegenteil: Wir wollen, dass sie wieder als Volkspartei der Mitte wahrgenommen wird.
Frage: Ihr Appell ist seit gut einer Woche in der Welt. Wie soll es mit "Compass Mitte" nun weitergehen
Neher: Der Appell war der erste Schritt. Wir verstehen uns aber vor allem als Netzwerk von Menschen, die miteinander im Gespräch bleiben und sich gegenseitig bestärken. Wir wollen zeigen, dass es in der CDU eine lebendige Mitte gibt – eine, die für christliche Werte, Verantwortung und gesellschaftlichen Zusammenhalt steht.
