1,5 Millionen Abtreibungen zwingen sie zum Handeln
Im Sommer 1991 gründete der damalige New Yorker Kardinal John O’Connor die "Sisters of Life", die für den Lebensschutz beten und arbeiten sollten. Mary Elizabeth Wusinich SV (45) trat 1993 mit 21 Jahren ein. Seit 2011 ist sie die Generalvikarin der "Sorores Vitae", wie sie auf Latein heißen. Im Interview stellt sie die Arbeit der Gemeinschaft vor, der inzwischen mehr als 100 Schwestern angehören.
Frage: Schwester Mary Elizabeth, die "Sisters of Life" wurden 1991 völlig neu gegründet. Wie sahen die Arbeit und das Leben in den ersten Jahren aus? Waren da alle Novizinnen in Ausbildung?
Wusinich: Tatsächlich gab es für alle zunächst ein Jahr Postulat und zwei Jahre Noviziat. Keine von den acht Gründungsmitgliedern war zuvor schon Ordensschwester. Wir sind froh, dass uns der Orden "Parish Visitors of Mary Immaculate" half, indem sie uns in ihrem Mutterhaus wohnen ließen und zwei Schwestern dazu beauftragten, uns auszubilden. Auch unser Gründer, Kardinal O’Connor, half mit häufigen Besuchen und mit Exerzitien bei der Ausbildung. Wir studierten in dieser Zeit Theologie, Kirchendokumente sowie die Kirche des Erzbistums New York und die Arbeit der Lebensschutz-Bewegung in den USA. Zwei weitere Orden halfen uns, indem wir sie bei ihrer praktischen Arbeit in der Altenhilfe und in einem Hospiz begleiten konnten.
Frage: Wie kommt es, dass ein Orden sich ganz speziell dem Thema Lebensschutz und Abtreibung widmet?
Wusinich: Kardinal O’Connor fragte sich, wie die Lebensschutz-Bewegung mit ihren sehr engagierten Mitgliedern, die schwangeren Frauen Hilfe anbieten, noch einen Fortschritt machen könnte. Und weil Ordensgemeinschaften im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder auf aktuelle Herausforderungen reagieren, wünschte er sich eine, die den Sinn für die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens wiederherstellt.
Frage: Das vierte Versprechen der "Sisters of Life" neben Armut, Keuschheit und Gehorsam lautet, die "Würde des menschlichen Lebens" zu schützen und zu betonen. Zu Lebensschutz gehören auch das Eintreten gegen die Todesstrafe und Sterbehilfe. Wie sind da Ihre Positionen?
Wusinich: Unser Hauptauftrag ist das Gebet und wir beten dafür, dass die Unverletzlichkeit des Lebens von der Empfängnis bis zum Tod wieder stärker ins Bewusstsein rückt. Das Gebet ist das wichtigste, um die Herzen der Menschen in der Welt zu verändern, damit sie wieder den Wert des menschlichen Lebens sehen. Unser Auftrag ist viel breiter als das Thema Abtreibung. Wir haben aber derzeit kein konkretes Apostolat, das auf diese anderen Themen reagiert, auch wenn wir feststellen, dass es in den USA einen immer größeren Bedarf gibt. Immer mehr Staaten legalisieren assistierten Suizid. Es wäre also möglich, das Aufgabenspektrum unseres Ordens in Zukunft zu erweitern.
Frage: Und beim Thema Todesstrafe?
Wusinich: Wir stehen zweifellos hinter der Lehre der Kirche. Im Katechismus steht, dass Staaten das Recht dazu haben, wenn es die einzige Möglichkeit ist, ihre Bürger zu schützen, aber dass dieses Mittel in der modernen Welt als nicht mehr nötig erscheine.
Kardinal O’Connor ging es darum, dass wir uns um die kümmern, die am verletzlichsten sind und in unserem Land sind das die Ungeborenen und ihre Mütter. In den USA gibt es 1,5 Millionen Abtreibungen – pro Jahr. Dieses schiere Ausmaß und der damit einhergehende Bedarf bringen uns dazu, dieses Gebiet zu unserem primären Fokus zu machen.
Frage: Sie bezeichnen sich als kontemplativ-aktiver Orden, der also sowohl betet aber auch arbeitet. Wie sieht ein Tag aus und welchen Berufen gehen Ihre Schwestern nach?
Wusinich: Jeden Tag beten wir ungefähr viereinhalb Stunden, dazu gehört das Stundengebet, die Messe, gemeinsamer Rosenkranz und eine "heilige Stunde" mit der eucharistischen Anbetung. Der Freitag ist ein "Tag des Gebets". Wir beten für all diejenigen in der ganzen Welt, die sich für die Betonung der Würde des menschlichen Lebens einsetzen. Daneben gibt es noch eine Gemeinschaftszeit und die "apostolische Zeit", also die Arbeit, die rund sechs Stunden am Tag beträgt.
Die meisten Schwestern arbeiten innerhalb unserer Einrichtungen. Wir beraten Schwangere in Konfliktsituationen per Mail, Telefon und persönlich, wir haben materielle Hilfen von Fläschchen bis Kinderwagen und haben einige Häuser, in denen Frauen monatelang mit uns leben und ihr Kind austragen können. All diese Arbeit würde nicht ohne Helfer gehen, deshalb bilden unsere Schwestern auch "Mitarbeiter des Lebens" aus, die den Frauen Hilfe anbieten – etwa als Arzt, Anwältin oder Arbeitgeber. Andere Schwestern arbeiten im Exerzitienhaus oder halten in Universitäten oder an High Schools Vorträge. Und einige arbeiten im Lebensschutz-Büro des Erzbistums New York.
Frage: Neben vielen Einrichtungen für Frauen in Konfliktsituationen gehen die Schwestern häufig auf große Veranstaltungen wie den "March for Life". Wie finanziert eine so junge Gemeinschaft dieses Engagement?
Wusinich: Für die meisten Tätigkeiten unserer Schwestern bekommen wir kein Gehalt. Unsere Gemeinschaft ist vollständig auf die göttliche Vorsehung angewiesen – von Beginn an haben wir uns auf sie verlassen. Wir leben und arbeiten von der Großzügigkeit unserer Gönner, davon, dass Einzelne dazu inspiriert werden, uns mit Spenden zu unterstützen. Gott sorgt jedes Jahr dafür, dass unser Leben und unsere Mission gesichert sind. Zum Beispiel gehört unser Exerzitienhaus in Connecticut den "Knights of Columbus" und sie unterstützen unsere Arbeit, indem sie es uns zur Nutzung überlassen. Und diejenigen, die uns zu Vorträgen einladen, übernehmen die Kosten.
Frage: Mit welchen Problemen wenden sich schwangere Frauen an Sie und was tun Sie für sie?
Wusinich: Sie haben viele Probleme. Oft wurden die Frauen sitzengelassen: vom Vater des Kindes, von ihrer Familie und Freunden. Häufig stehen sie unter dem Druck von allen Seiten, eine Abtreibung vornehmen zu lassen – von Freunden, vom Arbeitgeber oder von Medizinern. Sehr oft fühlen sie, dass sie das Baby bekommen wollen, sehen aber keine andere Möglichkeit als Abtreibung. Wir versuchen, ihnen den Raum und die Zeit zu geben, darüber nachzudenken. Sie können bei uns wohnen oder auf das Hilfsnetzwerk der "Mitarbeiter des Lebens" zurückgreifen. Wenn sie wissen, dass sie Unterstützung bekommen, dann entscheiden sie sich zu 99 Prozent für das Kind.
Frage: Seit 20 Jahren betreuen Sie auch Frauen, die an den Folgen einer Abtreibung leiden. Was bieten Sie diesen Frauen an und was ist das Ziel dieser Seelsorge?
Wusinich: Wir nennen das die Mission der "Hoffnung und Heilung" für Frauen, die ihre Abtreibung bereuen oder darunter leiden. Sehr viele Frauen suchen nach Online-Angeboten zu dem Thema, die verweisen wir auf eine entsprechende Seite der US-Bischofskonferenz. Zu uns selbst kommen jährlich hunderte Frauen persönlich. Wir bieten monatlich einen Einkehrtag für 10 bis 25 Teilnehmer an. Es geht zunächst darum, dass die Frauen sehen, dass sie nicht allein sind und dass sie über ihre Gefühle wie Scham und Schuld offen reden können. Denn in ihrem Umfeld bekommen sie oft gesagt, Abtreibung sei keine große Sache. Den Frauen wird bei uns die Möglichkeit zur Beichte oder zu einem vertraulichen Gespräch mit einem Priester gegeben, was fast alle – auch Nichtkatholikinnen – annehmen und am Abend gibt es eine Abschlussmesse.
Frage: In Deutschland sagen Schwangere in Konfliktsituationen oft, dass sie sich aus finanziellen Gründen kein Kind leisten können. Setzen sie sich auch für eine verbesserte Sozialpolitik ein, die Paaren Elternschaft ermöglicht, etwa wenn die Schwestern ihre Vorträge halten?
Wusinich: Bei den Vorträgen vor jungen Menschen geht es hauptsächlich darum, von der Schönheit eines enthaltsamen Lebens bis zur Ehe und von der christlichen Ehe zu berichten. Wir vermitteln ihnen, dass es einen Plan Gottes für ihr Leben gibt. Auch wenn das Leben manchmal ein Kampf ist, hören wir nach unserer Begleitung oft den Satz "Dieses Kind hat mein Leben gerettet". Es gibt also viele unerwartete Segnungen im Leben.
Frage: Und setzten Sie sich für eine familienfreundliche Sozialpolitik ein, etwa wenn sie demonstrieren?
Wusinich: Wenn wir beim "March for Life" mitdemonstrieren, geht es gegen die gerichtliche Entscheidung mit der Abtreibung in den USA legalisiert wurde. Unsere Arbeit ist zweigeteilt: Gebet einerseits und praktische Hilfen anzubieten andererseits. Und wir halten es für großartig, dass andere sich für soziale Reformen einsetzen, die Familien unterstützen.