"2.000 Dollar oder wir töten dich!"
Jetzt redet er frei, erzählt, wie er diese bekannte Bibelstelle versteht, die beispielhaft von Nächstenliebe handelt, von ebenjenem Samariter, der zufällig auf einen ausgeraubten und verletzen Mann trifft, ihm hilft und ihn versorgt. Georges Stimme stockt immer wieder.
"Die Frage der Menschen ist: Wie sollen sie damit umgehen, dass sie auch ihre Feinde lieben sollen, nach all dem, was die Islamisten ihnen angetan haben?", übersetzt Amill Gorgis. Er ist ökumenischer Beauftragter der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Berlin und hat den Bibelkreis ins Leben gerufen. "George meint, dass er einfach vergessen will, nur so könne er in seinem Herzen frei werden." George kennt die Bibelstelle mit dem barmherzigen Samariter gut: Früher, in Syrien, sei er in der Jugendarbeit aktiv gewesen. Im Jugendcamp habe er die Parabel als Rollenspiel nachgestellt, anschließend habe jeder seine Rolle verteidigen müssen.
Die Parabel über Nächstenliebe trifft bis ins Mark
Hier in Berlin aber, in dieser Runde mit anderen christlichen Flüchtlingen, ist nichts Spielerisches mehr. Gerade redet ein älterer Herr, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Seine Augen glänzen, seine Hände formen sich zu Krallen, ringen mit der Luft. Die anderen schweigen, manche nicken. Auch ohne Übersetzung ist klar: Die Parabel über Nächstenliebe trifft die Geflüchteten bis ins Mark.
"Es ist wichtig gerade für Kinder, dass sie mit dieser Parabel aufwachsen, damit sie lernen, für alle zu beten – auch für ihre Feinde", kommentiert Amill Gorgis die Diskussion leise. Er ist selbst gebürtiger Syrer. 1970, mit 18 Jahren, kam er nach Deutschland, um zu studieren, er wurde Ingenieur. Schon lange engagiert er sich ehrenamtlich, zurzeit betreut er an die 120 Flüchtlinge. Im Gottesdienst der syrisch-orthodoxen Gemeinde, der in Berlin traditionell auf Aramäisch gehalten wird, sei ihm aufgefallen, dass die geflüchteten Christen nicht folgen können: In ihren Heimatgemeinden wurde die Messe in Arabisch gefeiert. "Das tat mir unglaublich leid", meint der ruhige Mann. "Ich dachte, die vertrocknen mir, wenn ich nichts mache." So kam er auf den wöchentlichen Bibelkreis, der die Bibelstelle des kommenden Sonntags auf Arabisch bespricht. Die Teilnehmer bindet er mit Aufgaben ein, so wie George heute. "Man sieht an den vielen Teilnehmern, dass der Bedarf da ist."
Gekommen ist zum Beispiel die Familie von Botros. Der aufgeweckte Elfjährige hat während des Bibelkreises dafür gesorgt, dass jeder eine Kopie des Bibeltextes einsehen konnte. Nun möchte er die Geschichte seiner Familie erzählen. "Wir haben in Rakka gewohnt, meine Mutter ist Ärztin, mein Vater Pharmavertreter", leitet er ein. Dass er erst seit sechs Monaten in Deutschland ist, hört man nicht. Eines Tages sei sein Vater von den Islamisten entführt worden. Jetzt erzählt der Vater selbst, Botros übersetzt: "Sie rissen mir die Kette mit Goldkreuz vom Hals, stahlen meinen Ehering". Der Vater spricht leise, sein Gesicht starr, die Augen ernst. Sein Sohn steht jetzt neben ihm, sucht nach den richtigen Worten: "Sie haben uns erpresst. Sie sagten: 2000 Dollar oder wir töten dich!" Einen Tag hätten sie den Vater festgehalten, bis die Familie das Geld zusammenhatte und ihn freikaufen konnte. "Das Auto haben sie behalten." Danach war klar: Die Familie muss fliehen. Der Vater ging als erster, mit Bussen, Booten, zu Fuß, bis nach Berlin. Dank dem Familiennachzug konnten seine Frau und seine beiden Kinder nachfolgen.
Ähnliches hat Mirianas Familie erlebt. Sie, ihre Zwillingsbrüder und ihre Eltern kommen aus dem Irak. "Wir hatten dort ein eigenes Haus", berichtet das quirlige Mädchen. Auch sie übersetzt für ihren Vater. Mit den Nachbarn, darunter auch Muslime, habe man sich eigentlich gut verstanden. Doch dann seien die Islamisten gekommen. "Die Christen mussten eine Kopfsteuer zahlen, aber sie bekamen keine Arbeit mehr", so erzählt der Vater, der als Elektriker arbeitete. Die Islamisten schikanierten sie, zwangen sie zum Beispiel, ihre Schuhe auszuziehen und barfuß zu laufen, "als Demütigung", und konfiszierten ihre Autos. "Ich habe meine Kette mit Kreuz versteckt, bin nur noch so durch die Straßen gelaufen", berichtet der Vater. Dabei hält er das Revers seiner Jacke zu, die Fingerknöchel werden weiß. Die Feindschaft sei darin gegipfelt, dass die Islamisten in zwei Tagen 40 Kirchen zerstörten und ein Ultimatum aussprachen: In 48 Stunden mussten alle Christen die Stadt verlassen. Mirianas Familie floh nach Deutschland.
Jetzt sind Miriana, Botros und ihre Familien in Berlin. Besonders die Schule macht ihnen Spaß, versichern beide. "Mh, eigentlich alles", meinen sie auf die Frage, was ihre Lieblingsfächer seien. "Und ich bin gut, ich habe keine Vier auf dem Zeugnis", ruft Miriana. Sie lächelt stolz, ihr Zopf wippt. Der Vater von Miriana, die Eltern von Botros lächeln auch, aber ihre Augen lächeln nicht mit. Wie es ihnen hier geht? "Ja, gut". Das ist alles. Plötzlich redet Botros' Mutter, auf Deutsch. "Viele Deutsche denken, die Syrier wären alle gleich." Ihre Augenbrauen ziehen sich sorgenvoll zusammen. Vorsichtig redet sie weiter. "Sie scheren alle über einen Kamm. Aber es gibt Unterschiede." Sie hoffe, dass man das hier verstehe. Die anderen nicken.
"Die, die vor Terror geflohen sind, deren Seele ist verletzt"
"Die christlichen Flüchtlinge verstehen nicht, dass die Deutschen, insbesondere auch Christen, auch muslimischen Flüchtlingen helfen", fasst Amill Gorgis zusammen, was die Familien nur andeuteten, sich aber nicht auszusprechen wagten. Die sind inzwischen gegangen, es ist schon spät, Gorgis muss abschließen. "Diese Dinge höre ich oft in den Gesprächen mit ihnen." In ihrer Heimat hätten sie erlebt, wie extremistische Muslime ihre Kirchen niederbrannten, wie muslimische Nachbarn sie verrieten. "Und dann kommen sie in ein Land, das christlich geprägt ist, und im Aufnahmelager ist der allergrößte Teil der Flüchtlinge muslimisch. Das ist für sie wie ein Schock." Er hält kurz inne.
"Die, die vor Terror geflohen sind, deren Seele ist verletzt. Aber man muss ihr Herz wachhalten." Wieder eine Pause. "Extremisten sind grausam, weil sie in die Irre geführt wurden oder weil sie blind sind vor Eifer". Denn "Gott kann nicht dort wohnen, wo Tod, Raub, Hass und Verschleppung sind. Als Christen dürften wir nie die Hoffnung verlieren, dass die Extremisten es eines Tages einsehen." Die Christen hätten eine Aufgabe unter den Muslimen. "Das, was wir heute gelesen haben, die Parabel des barmherzigen Samariters, das passt auf die Situation." Keinesfalls leicht, aber: "Ich finde es wunderbar, wenn Gott einem Aufgaben gibt und man in seinem Sinne wirken darf." Mit Raketen könne man den IS sowieso nicht bekämpfen, das sorge nur für noch mehr Zulauf für die Extremisten. "Ich erinnere mich noch: Auch die Wiedervereinigung der Deutschen war damals eine Utopie. Und doch hat es geklappt." Er lächelt. "Gott kann Wunder tun, daran glaube ich."