Abtreibungsgegner darf demonstrieren
Die Entscheidung erging mit fünf zu zwei Stimmen. In einem Minderheitenvotum billigten zwei Richter das Flugblattverbot. Straßburg sprach Annen wegen Verletzung der Meinungsfreiheit eine Entschädigungszahlung von rund 13.700 Euro zu.
Annen kämpft seit Jahren bundesweit vor Arztpraxen und im Internet gegen Mediziner, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Er vergleicht Abtreibungen mit den Massenmorden der Nationalsozialisten und spricht analog zum Holocaust vom "Babycaust". Mehrfach untersagten ihm Gerichte seine Proteste, in anderen Verfahren erhielt er Recht. Das Bundesverfassungsgericht nahm seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Mit einer ersten, 2006 eingereichten Klage war er auch vor dem Menschenrechtsgerichtshof gescheitert.
Annen verwies auf bundesweite Liste von "Abtreibungsärzten"
Im nun in Straßburg verhandelten Fall ging es um Annens Proteste in Ulm, die letztlich zur Schließung einer Tagesklinik führten. Vor der Arztpraxis hatte er Flugblätter verteilt, die großgedruckt Abtreibungen als rechtswidrig bezeichneten und in deutlich kleinerer Schrift auf die deutsche Rechtslage verwiesen, wonach Abbrüche unter bestimmten Bedingungen straffrei bleiben.
Auf der Rückseite des Flugblatts schrieb er: "Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt." Zudem verwies Annan auf seine Internetseite "Babycaust" mit einer bundesweiten Liste von "Abtreibungsärzten".
Das Ulmer Landgericht und das Stuttgarter Oberlandesgericht hatten ihm die Flugblattaktionen direkt vor der Tagesklinik sowie die Nennung der Namen der Mediziner und der Adresse der Praxis in seiner Internetliste untersagt. Das Bundesverfassungsgericht hatte Annens Klage gegen die Urteile nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof entschied nun jedoch, die deutschen Gerichte hätten Annens Recht auf Meinungsfreiheit und die Persönlichkeitsrechte der Mediziner nicht angemessen und fair gegeneinander abgewogen.
Moral und Recht nicht gleichzusetzen
So habe Annen die deutsche Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch auf seinem Flugblatt korrekt dargestellt. Auch kritisierte Straßburg die Einschätzung der Gerichte, wonach Annen die Persönlichkeitsrechte der Gynäkologen verletzte, indem er ihre medizinische Tätigkeit indirekt mit den nationalsozialistischen Massenmorden verglichen habe. Im Gegenteil könne man Annens Flugblatt vielmehr als Appell verstehen, sich bewusst zu machen, dass Moral und Recht nicht gleichzusetzen seien, heißt es in dem Urteil. Die Flugblattaktion sei als Beitrag zu einer für die Öffentlichkeit wichtigen, kontroversen Debatte zu werten.
Schließlich hätten die deutschen Gerichte, so der Menschenrechtsgerichtshof, Annens Internetseite nicht detailliert analysiert. So sei beispielsweise nicht geprüft worden, ob die von Annen aufgeführten Mediziner nicht selbst auf ihren Internetseiten auf die Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen verwiesen.
In ihrem Minderheitenvotum lehnten zwei Richter die Mehrheitsmeinung der Kammer ab: Aus ihrer Sicht bestand keineswegs ein öffentliches Interesse, dass Annen die beiden Mediziner hart kritisierte und an den öffentlichen Pranger stellte. Durch die Verweise auf NS-Zeit, Holocaust und Auschwitz habe Annen die Ärzte vielmehr in unzulässiger Weise "dämonisiert". (KNA)