Auf jungen Geflüchteten lastet großer Druck

Allein in der Fremde

Veröffentlicht am 24.07.2016 um 00:01 Uhr – Von Ulrike von Leszczynski (dpa) – Lesedauer: 
Flüchtlinge

Berlin ‐ 60.000 Jugendliche sind im vergangenen Jahr ohne ihre Familien nach Deutschland geflohen. Hier müssen sie neben der Integration müssen sie noch eine andere große Aufgabe bewältigen: Teenager sein.

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Nun lebt der Teenager in einer betreuten Wohngruppe. Antje Meinrad trifft ihn zweimal in der Woche. Sie ist Ansprechpartnerin, wenn es um die Schule geht, das Asylverfahren - all die behördlichen Dinge. Als Vormund hat Meinrad erfahren, dass der Junge mit Schleppern kam und die Familie bei der Flucht getrennt wurde. Wo seine Eltern und Geschwister im Moment sind, weiß ihr Schützling nicht. Auch nicht, ob sie überhaupt noch leben.

"Natürlich ist für ihn jetzt eine der ganz großen Fragen: Wo gehöre ich hin?", sagt sie. "Manchmal möchte er ganz deutsch sein und die angesagten Turnschuhe haben. Und einen Tag später will er viermal am Tag in die Moschee und den Ramadan besonders streng durchziehen." Dazu komme ganz normales Teenager-Verhalten. "Er malt oder schmollt - und im nächsten Moment will er ein Mann sein."

Landkreise und kreisfreie Städte haben allein im vergangenen Jahr bundesweit rund 60.000 geflüchtete Teenager aufgenommen, die ohne Familie nach Deutschland kamen. Die meisten stammten aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Einer von ihnen wurde am Montag bei Würzburg zum Attentäter, vermutlich radikalisierte er sich erst in Deutschland. Das alles ist nicht leicht zu verstehen.

Bessere Chancen gegen größeren Druck

"Geflüchtete Jugendliche, die allein nach Deutschland kommen, haben oft bessere Startchancen als Teenager, die mit ihren traumatisierten Familien in großen Flüchtlingsunterkünften leben", sagt Sibylle Winter, Leiterin der Trauma-Ambulanz an der Berliner Charité. Denn um Teenager ohne Verwandte kümmerten sich meist schnell Sozialarbeiter. "Auf der anderen Seite kann der Druck, der auf diesen Jugendlichen lastet, enorm sein", ergänzt die Ärztin. "Sie vermissen ihre Eltern, die oft noch in Gefahr sind. Und sie haben Schuldgefühle, dass sie in Sicherheit sind."

Das könne sich in Extremfällen bis zu Suizidgedanken steigern. "Wir kennen dieses Phänomen von Holocaust-Überlebenden", berichtet Winter. Dazu komme häufig noch der hohe Erwartungsdruck aus der Heimat, die Verwandten nachzuholen. "Die Menschen dort verstehen doch nicht, was Asylpakete sind. Wie sollen Teenager ihnen das erklären?"

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Video: © katholisch.de

Wo werden minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aufgenommen und wie können sie in Deutschland ankommen? Paul Metzlaff von der afj gibt Antworten.

In die Charité-Ambulanz kommen am Tag mehrere Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsunterkünften, die auffälliges Verhalten zeigen - die Palette reicht vom Bettnässen über Aggression bis zu Gewalt gegen sich selbst. "Bei einem Drittel klingen die Symptome wieder ab, ein Drittel können wir stabilisieren. Aber ein Drittel würde eine Trauma-Therapie brauchen", ergänzt Winter. Ein Problem sei, dass die Charité das nicht leisten könne. "Voraussetzung wären geschulte Dolmetscher. Die haben wir noch nicht."

Beim Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wertet Referent Tobias Klaus Integration in den vergangenen Jahren erst einmal als Erfolgsgeschichte. "Viele Jugendliche sind hier angekommen und mit Ausbildung und Arbeit auch weitergekommen", sagt er. Anders als geflüchtete Teenager mit Familie seien sie deutschen Jugendlichen sozialrechtlich sofort gleichgestellt. Je nach Betreuungsform kümmere sich ein Betreuer um zwei bis zehn Jugendliche.

Die Jugendlichen ohne Beschäftigung bereiten Sorgen

Im Vergleich zu Flüchtlingsunterkünften wie den Hangars am ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof erscheint das traumhaft. Dort lebten Anfang Juli 250 Jugendliche zwischen 17 und 21. Nur 70 Jugendliche haben einen Schulplatz. Vor allem die jungen Leute ohne Beschäftigung machen Sozialarbeitern Sorge. Einmal als mögliche Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen - aber auch als Täter. Ohne Perspektive und Ziel seien sie leichter für kriminelle Machenschaften zu gewinnen.

Themenseite: Auf der Flucht

Die Flüchtlingskrise fordert Staat, Gesellschaft und Kirchen mit ganzer Kraft heraus. Auch die katholische Kirche in Deutschland engagiert sich umfangreich in der Flüchtlingsarbeit. Weitere Informationen dazu auf der Themenseite "Auf der Flucht".

Doch auch bei den Flüchtlingen ohne Familie sieht Tobias Klaus inzwischen Verschlechterungen. "Ein Problem ist, dass die Standards durch die hohen Zahlen gesunken sind und Bundesländer wie Bayern sie weiter abbauen wollen", sagt er. Als besonders wichtig, auch als Schutz vor Radikalisierung, sieht Klaus den Aufbau stabiler und langfristiger Beziehungen zu Betreuern, die für einen geregelten Alltag sorgen. "Es geht um Sicherheit, Geborgenheit und Perspektiven."

Langes Warten und immer wieder neue Umgebungen bergen für Klaus dagegen Gefahren - auch als Einfallstor für Organisationen wie den IS. "Das Leben vieler Jugendlicher ist bereits durch Krieg und Flucht von Beziehungsabbrüchen, Verunsicherung und Vertrauensverlust geprägt", sagt er. Das Auslaufen des Jugendschutzes mit 18 Jahren sieht er als dramatischen Punkt. Nicht wenige Jugendliche würden dann in großen Flüchtlingsunterkünften oder vereinzelt auch auf der Straße landen - leichte Beute für Islamisten.

Die Moschee spielt selten eine große Rolle bei der Integration

"Jugendliche Flüchtlinge suchen ganz schnell nach engen Bezugspersonen", berichtet Andrea Plamper vom Berliner Verein "Lebensnah". Hier ist eine Notunterkunft für Teenager ohne Familie entstanden, vor allem aus Syrien und Afghanistan. "Viele haben den Wunsch, sich so schnell wie möglich hier einzuleben und auf eigenen Füßen zu stehen." Die Moschee spiele dabei oft keine große Rolle. Wichtig sei den jungen Männern zum Beispiel das Kochen von Gerichten aus ihrer Heimat. "Sie möchten uns ein Stück ihrer Kultur zeigen", ergänzt Mitarbeiterin Gabriele Bense. "Es dauert aber, bis sie tieferes Vertrauen fassen und auch über die Vergangenheit reden."

Einige fänden sich schnell zurecht, andere fühlten sich besonders wegen Sprachproblemen nicht wirklich angekommen und verfielen auch schon einmal in depressive Stimmungen. Doch wie sehr die Teenager an ihrem ersten Quartier hängen, zeigen sie auch nach dem Auszug: Sie kommen gern und oft zu Besuch.

Von Ulrike von Leszczynski (dpa)