Allein in einem fremden Land
Nach teils monatelanger Flucht durch Europa und dramatischen Erlebnissen können sie hier erstmals wieder ein wenig zur Ruhe kommen, ein Stück weit Normalität erleben. 20 männliche Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren aus Afghanistan, Eritrea und Syrien stehen dort in drei Reihenhäusern unter der Obhut der Mitarbeiter des vom Caritasverband Nürnberg getragenen Jugendhilfezentrums Schnaittach. Das für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständige Landratsamt stellt die angemieteten Wohnhäuser und die finanziellen Mittel zur Verfügung - pro Flüchtling und Tag gibt es eine entsprechende Sachkostenpauschale. Das Jugendhilfezentrum sorgt damit für Betreuung, Verpflegung und Reinigung.
"Als zu Beginn des vergangenen Jahres von vielen Seiten Appelle an Jugendhilfeorganisationen gerichtet wurden, Unterbringungsmöglichkeiten für junge Flüchtlinge zu schaffen, war für uns sofort klar, dass wir Entsprechendes in die Wege leiten", sagt Willibald Neumeyer, Einrichtungsleiter des Jugendhilfezentrums. Alleine aus der christlichen Verantwortung heraus sei es für die Caritas selbstverständlich gewesen, sich entsprechend zu engagieren.
An die 300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind derzeit in katholischen Jugendeinrichtungen der Erzdiözese Bamberg untergebracht. Alleine 75 von ihnen betreut die Einrichtung der Caritas Jugendhilfe in verschiedenen Wohngruppen. Das Projekt in Rückersdorf ist darunter ein besonderes. Nicht nur, weil es sich dabei um eine so genannte "Übergangseinrichtung" handelt.
Ein Wohnprojekt mit Modellcharakter
Anders als in Regeleinrichtungen werden die asylsuchenden Jugendlichen hier nicht automatisch in den Schulunterricht integriert. Zudem gelten verminderte Anforderungen in Bezug auf die Unterbringung. Nachdem in den vergangenen Wochen und Monaten immer mehr minderjährige Flüchtlinge ohne Familie insbesondere nach Bayern gekommen sind und die regulären Plätze bei weitem nicht mehr ausgereicht haben, waren Landkreise, Städte, Kommunen und Gemeinden zum Handeln gezwungen.
Das eigentlich aus der Not heraus geborene Wohnprojekt in Rückersdorf - die Reihenhäuser waren ursprünglich für die Unterbringung von asylsuchenden Familien vorgesehen - hat nun weit über die Landkreisgrenzen hinaus Modellcharakter. Von den acht pädagogischen Mitarbeitern, die von Montag bis Sonntag vor Ort sind, stammen drei selbst aus den jeweiligen Herkunftsländern ihrer Schützlinge. Wasim Al Mukdad ist einer von ihnen. Der 34-Jährige Nürnberger aus Syrien ist Betreuer, Übersetzer und großer Bruder zugleich. "Weil ich mit den Jungs in ihrer Sprache sprechen kann, schafft das direkt ein anderes Vertrauensverhältnis", sagt er.
Ein Stück Heimat in der Fremde. Das beruhigt, gibt Halt und schafft Vertrauen. Dinge, die auch Jamal in diesen Tagen dringend benötigt. Neun Monate ist es her, dass der 16-jährige Syrer aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Aleppo zum letzten Mal zu Hause bei seiner Familie war. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs habe er im Leben nicht daran gedacht, seine Heimat jemals zu verlassen. Als auch noch die selbst ernannten Gotteskrieger des "Islamischen Staates" begannen, ihre Gräueltaten zu verüben, änderte sich alles. "Das Leben wurde unerträglich. Ich habe Schlimmes gesehen und erlebt", sagt er. Dann stockt seine Stimme.
Fliehen für eine neue Lebensperspektive
Der einzige Ausweg: Weggehen. Alleine. Um für sich und seine Familie eine Lebensperspektive zu schaffen. Über die Türkei, nach einer Überfahrt in einem überfüllten Schlauchboot über das Mittelmeer nach Griechenland, über den Balkan, Österreich und München ist er schließlich Anfang September in Mittelfranken gestrandet. Endlich in Sicherheit. Schnell die Sprache zu lernen, Medizin zu studieren und dann irgendwann seine Familie hierher zu holen - das sind seine Ziele.
"Nach der zum Teil monatelangen Flucht ist es wichtig, die Jugendlichen erstmal ankommen und sich an das völlig unbekannte Leben in Deutschland gewöhnen zu lassen", sagt Willibald Neumeyer. Nach und nach werden sie an dieses herangeführt. "Wir müssen die Jungs mit Dingen vertraut machen, die für uns selbstverständlich sind: Das beginnt bei der Mülltrennung und reicht bis zur Funktionsweise eines Elektroherdes, den manche noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen haben." Um sich möglichst schnell im Alltag zurecht finden zu können, werden die Jugendlichen deshalb auch unmittelbar in diesen integriert.
"Hotel Mama" - Fehlanzeige. Eine Reinigungskraft und Hauswirtschafterin, die sich um die Verpflegung kümmert, gibt es zwar. Doch egal ob beim Einkauf, der Essenszubereitung oder dem Hausputz - überall müssen die Jugendlichen selbst mit Hand anlegen. "Unser Ziel ist es, ihnen Orientierung zu geben", sagt Willibald Neumeyer. Zu Hause müssten sie schließlich auch mit anpacken. Dass Wasim Al Mukdad dabei hin und wieder auch mal den strengen großen Bruder geben muss, bleibt nicht außen vor. "Ankommen ist das Eine. Bleiben und eine wirklich Perspektive haben, ist das andere", sagt er. Er weiß, wovon er spricht.
Sprachkurse als Dreh- und Angelpunkt
Um solche zu eröffnen, lernen die jungen Asylbewerber jeden Tag mehrere Stunden das, was Dreh- und Angelpunkt ist, um hierzulande Fuß fassen zu können. Der Deutschunterricht ist von Montag bis Freitag fester Bestandteil des Alltags. Jeweils zu zehnt werden die Jugendlichen von DaZ-Lehrkräften (Deutsch als Zweitsprache) mit den Grundbegriffen der deutschen Sprache vertraut gemacht. "Für die Lehrkräfte ist das natürlich eine große Herausforderung, weil vom Analphabeten bis zum Schüler, der in seinem Heimatland bereits kurz vor dem Abitur stand, alles dabei ist", sagt Willibald Neumeyer.
Die Sprache ist jedoch nicht die größte Herausforderung. "Die Jugendlichen haben einen unbändigen Ehrgeiz und lernen ungemein schnell", erzählt Neumeyer. "Man merkt, dass sie etwas erreichen wollen." Am schwierigsten fällt es ihnen vielmehr, mit den gesellschaftlichen Erwartungen fern der Heimat und den kulturellen Unterschieden zurecht zu kommen. Das erlebt die Sozialpädagogin Heide Röck im Alltag immer wieder. "Die Jungs treten immer wieder unbeabsichtigt in Fettnäpfchen und kollidieren mit gesellschaftlichen Normen, weil diese für sie schlichtweg fremd und unbekannt sind", sagt sie. Ihnen dabei zu helfen ist eine ihrer vorwiegenden Aufgaben.
Eine, deren Ausmaße sich erst im Laufe der Zeit wirklich zeigen werden. "Es ist wichtig, auf welches Gegenstück sie treffen, wenn sie hier Kontakt mit Gleichaltrigen haben und sich einen Freundeskreis aufbauen", sagt sie. "Sie suchen nach Halt. Ihre Leuchttürme müssen dabei Vorbilder sein und nicht das Gegenteil." Daneben sind es Traumata, die nach und nach aufbrechen. Wenn Ahmed erzählt, wie er während seiner Flucht alleine mit seinem Bruder tagelang in einem aus alten Pappkartons notdürftig zusammengebastelten "Zelt" Schutz suchte, ist kaum vorstellbar, dass derlei Erlebtes spurlos an einem jungen Menschen vorüber geht.
Der Traum vom Reihenhaus-Idyll
Hinzu kommen aus einer mangelhaften medizinischen Versorgung in der Heimat resultierende akute gesundheitliche Probleme, mit denen es umzugehen gilt, sowie die schier unerträgliche Situation, nun selbst in Sicherheit zu leben, seine Angehörigen zu Hause jedoch gleichzeitig in Lebensgefahr zu wissen. Der Umstand W-LAN zu haben, ist deshalb keinesfalls unnötiger Luxus, sondern die einzige Möglichkeit zu wissen, wie es den Familienangehörigen geht und umgekehrt für jene die einzige Chance in Erfahrung zu bringen, ob das eigene Kind überhaupt noch am Leben ist. Genauso wenig hat die Unterbringung in den neu errichteten Reihenhäusern etwas mit Luxus zu tun. Modern, ja. Jedoch zweckmäßig statt luxuriös.
In Zwei- bis Vierbettzimmern leben die Jugendlichen hier auf engstem Raum zusammen. Ein Metallbett, ein Stuhl, ein Spind, ein gemeinsamer Tisch. Privatsphäre gibt es nicht. Dass es auch unter den Jugendlichen selbst hin und wieder zu Reibereien kommt, ist deshalb kein Wunder. Dass diese Konflikte nicht zwangsläufig religiös oder kulturell begründet sein müssen, weiß jeder, der selbst bereits das Erlebnis Schullandheim im Vierbettzimmer hat hinter sich bringen dürfen. "Um von vornherein Spannungen zu minimieren, haben wir die Jugendlichen nach Nationalität in die einzelnen Häuser aufgeteilt", sagt Willibald Neumeyer.
Dafür, dass Jamal, Ahmed und all die anderen nun eine Perspektive haben, tun er und sein Team seit Anfang September alles. Mensch sein. Eine Perspektive haben. Normal Leben. Irgendwann vielleicht auch einmal selbst Probleme in der Größenordnung zu haben, wer entscheiden darf, was am Abend im Fernsehen läuft. Darum kämpfen die Jugendlichen, die nicht das Glück hatten, in die Idylle einer Reihenhaussiedlung im Speckgürtel einer Großstadt hineingeboren worden zu sein.