An Jom Kippur bleibt die Straße leer
Vor den Passkontrollen am Flughafen Ben Gurion drängen sich die letzten Einreisenden. Draußen mahnen die Taxifahrer zur Eile. Wer jetzt keinen Platz mehr bekommt, riskiert eine lange Wartezeit. Denn mit dem Sonnenuntergang beginnt der höchste jüdische Feiertag: Jom Kippur - Versöhnungstag. Bis nach Sonnenuntergang des nächsten Tages ruht das ganze Land. Auch wer nicht fastet und betet, verbringt den Tag oft in Stille und mit persönlichen Meditationen. Radio und Fernsehen schweigen. Flugzeuge bleiben auf dem Boden, Busse und Straßenbahnen im Depot. 25 Stunden lang.
Nur noch vereinzelt rollen Autos über die sonst staugeplagte Verkehrsader entlang der Jerusalemer Altstadt. Bald werden sie den Rollerblade-Fahrern weichen, die schon an der verwaisten Straßenbahnhaltestelle neben der Stadtverwaltung auf den Sonnenuntergang warten. Derweil versammelt sich die religiöse Bevölkerung zum Kol-Nidre-Gebet - dem formelhaften Widerruf aller persönlichen Gelübde, Eide und Versprechungen gegenüber Gott, die unwissentlich oder unüberlegt abgelegt wurden - und dem anschließenden Abendgebet in den Synagogen.
Verboten, so scheint es auf den ersten Blick in die religiösen Vorschriften, ist an diesem Tag so ziemlich alles, was Freude macht: Essen und Trinken, sexuelle Kontakte, Parfüm und Schmuck und sogar Körperpflege ganz allgemein. Askese ist angesagt, außer was die Gottesdienste in den Synagogen angeht, die am Jom Kippur ohne Unterbrechung fortgesetzt werden.
Düster und grau ist die Stimmung trotz der asketischen Auflagen dennoch nicht. Das intensive Bemühen um positive Veränderung der eigenen schlechten Angewohnheiten beschreiben viele als erhebend, das Vergeben gegenüber dem Nächsten als Befreiung von Ärger und Groll. In den Blick auf die eigenen Verfehlungen des vergangenen Jahres mischt sich so eine festliche Leichtigkeit, die gut zur Farbe des Tages passt: Weiß, als Zeichen der Reinheit und Heiligkeit, dominiert die Kleidung im Straßenbild. Nur an die ungewöhnliche Kombination der Gewandung mit Crocs oder Turnschuhen muss sich der außenstehende Beobachter erst gewöhnen: Leder galt lange als Luxus. Lederschuhe sind daher an dem hohen Feiertag tabu, lautet eine der Erklärungen.
Eine wahre Wohltat ist der eintägige Stillstand im Land unterdessen für Mensch und Umwelt. Bis zu 90 Prozent sinkt an Jom Kippur nach Messungen der israelischen Umweltschutzbehörde die Luftverschmutzung in den größeren Städten des Landes. Für die Sportbegeisterten unter den säkularen Juden ist es wie für die nichtjüdischen Minderheiten der Tag der ungeahnten Möglichkeiten, denn ihnen gehören an diesem Tag die Straßen. Ein behördliches Fahrverbot gibt es nicht.
Doch die säkulare jüdische Mehrheit hält es am Versöhnungstag mit der Tradition und lässt wie viele Muslime und Christen die Motoren aus. Und so bringt der Feiertag Juden und Araber gleichermaßen zu den ungewöhnlichen Freizeitaktivitäten. Einmal auf der Autobahn von Jerusalem nach Tel Aviv radeln oder mitten auf der Schnellstraße joggen? An Jom Kippur ist das gefahrlos möglich - auch wenn Rettungskräfte in etwa so oft wegen Sportunfällen ausrücken müssen wie zu Einsätzen bei Menschen, denen das Fasten nicht so gut bekommen ist.
Übrigens kommen nur die Vergehen gegen Gott an diesem Tag auf das Tapet. Weil Gott nach dem jüdischen Glauben diese aber erst dann verzeiht, wenn die Menschen sich untereinander ausgesöhnt haben, müssen zwischenmenschliche Verfehlungen noch vor dem großen Versöhnungstag ins Reine gebracht werden.
Dem Fast- und Bußtag gehen der jüdische Monat Elul mit seinen täglichen Gebeten um Vergebung der Sünden und das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschanah voraus, mit dem die zehn Bußtage beginnen - der letzten Chance sozusagen, vor dem Versöhnungstag doch noch umzukehren und sein Schicksal zu wenden. Am Jom Kippur nämlich, so der jüdische Glaube, entscheidet sich, wer in das "Buch des Lebens" eingetragen wird.
Mit dem Sonnenuntergang am Jom Kippur haben die lange Zeit der Einkehr und die 25-stündige Ruhe dann schnell ein lautes Ende: "Es ist vorbei", beendet der Ton aus dem Schofar (Widderhorn) wie eine Entwarnung das Fasten. Zurück zur Normalität heißt es für viele Juden trotzdem nicht: Sukkot steht schon vor der Tür. Noch mit dem Ende des Jom Kippur beginnen die Vorbereitungen für den Bau der Laubhütten.