Auf dem Umweg zum Ziel
Mit großer Mehrheit stimmte das Parlament in La Paz für ein neues Gesetz, welches in Ausnahmefällen Kinderarbeit bereits ab zehn Jahren erlaubt. Damit wurde die Altersgrenze, die zuvor bei 14 Jahren lag, nochmals herabgesetzt. Ziel des Gesetzes sei es, die lahmende Wirtschaft des ärmsten Landes Südamerikas anzukurbeln und Bolivien bis 2025 aus der Armut zu verhelfen. Läuft alles nach Plan, soll Kinderarbeit ab 2020 nicht mehr nötig sein.
Hilfswerke vertreten unterschiedliche Standpunkte
Auf dem falschen Weg sieht Christian Frevel, Sprecher des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, das Land. "Das Gesetz geht weit hinter die Errungenschaften des internationalen Arbeitsrechts zurück. Kinder bedürfen des Schutzes, sie brauchen das Recht auf eine ganzheitliche Ausbildung", erklärt Frevel. Zwar enthalte das Gesetz auch begrüßenswerte Maßnahmen zum Kinderschutz, doch sei die Senkung des Mindestalters zur Arbeit "eine Anerkennung des täglichen Missstands in Bolivien, wo Kinder schon immer arbeiten mussten, damit ihre Familien überleben konnten." Laut Frevel werde dadurch ein Missstand zum Normalen gemacht. Die gesetzliche Anerkennung der Kinderarbeit stehe zudem im Widerspruch zu den Konventionen der UN-Arbeitsorganisation ILO , die auch Bolivien ratifiziert hat.
Für zumindest kurzfristig und unter bestimmten Voraussetzungen hilfreich hält dagegen Markus Zander, Bolivien-Länderreferent beim Hilfswerk Misereor, das Gesetz. "Tatsächlich ist es so, dass in Bolivien geschätzte 850.000 Kinder arbeiten müssen, um ihre Familien, ihre Geschwister mitzuversorgen, aber auch, um selbst überhaupt die Möglichkeit zu haben, zum Beispiel Schulgeld zu bezahlen, Bücher zu bezahlen, Schuluniformen zu bezahlen und ähnliches", erläutert der Bolivien-Länderreferent beim Hilfswerk Misereor im Interview mit Radio Vatikan . Da die Illegalität ihrer Tätigkeit sie verwundbar mache und sie ohne rechtliche Grundlage und ohne Arbeitsverträge häufig unter der Willkür ihrer Arbeitgeber litten, sei die gesetzliche Anerkennung ihrer Erwerbstätigkeit nicht grundsätzlich abzulehnen. Laut Zander sollte Bolivien jedoch das Ziel verfolgen, langfristig ohne Kinderarbeit auszukommen. Außerdem müsse der Staat die Einhaltung des Gesetzes mit den dazugehörigen Auflagen kontrollieren.
Zu diesen Auflagen gehört, dass für Kinder im Alter von unter 14 Jahren, neben einer Erklärung der Freiwilligkeit auch die Zustimmung der Eltern und einer Schiedsperson erforderlich sind. Darüber hinaus verpflichten sich die Arbeitgeber, für die körperliche und geistige Unversehrtheit der Kinder Sorge zu tragen und ihnen die Möglichkeit zum Schulbesuch zu geben.
Kindergewerkschaft kämpft für Recht auf Arbeit
Bereits vor diesem Gesetz stellte Bolivien eine Ausnahme in der weltweiten Ächtung von Kinderarbeit dar. Nirgendwo anders scheint die Kinderarbeit in Gesellschaft und Politik derart akzeptiert zu sein. Staats- und Regierungschef Evo Morales, der als Kind selbst in einem Bäckerbetrieb arbeitete, ist einer ihrer wichtigsten Fürsprecher. Immer wieder hat er betont, wie wichtig die Arbeit in jungen Jahren für die Entwicklung des sozialen Gewissens sei.
Die vehementesten Verteidiger der Kinderarbeit sind aber die Kinder selbst. Hineingeboren in Familien, in denen die Eltern oft nicht einmal für sich selbst sorgen können, ist das eigene Geld für sie überlebenswichtig. Auf dem Arbeitsmarkt haben die Kinder gute Chancen, da sie billiger als die Erwachsenen sind. Für ihr Recht auf Arbeit veranstaltete die Gewerkschaft der arbeitenden Kinder und Jugendlichen, die etwa 100.000 Mitglieder zählt, zahlreiche Demonstrationen. Der dadurch ausgeübte Druck bewegte Morales dazu, eine Delegation der Kinderarbeiter zu empfangen.
Neben Arbeitszeiten, die mit dem Schulbesuch vereinbar sind, und einer Krankenversicherung stehen vor allem faire Arbeitsbedingungen auf der Agenda der Kindergewerkschaft.
„Das Gesetz geht weit hinter die Errungenschaften des internationalen Arbeitsrechts zurück. Kinder bedürfen des Schutzes, sie brauchen das Recht auf eine ganzheitliche Ausbildung“
Zuspruch erhält die Gewerkschaft von Elizabeth Patiño, der Kinderrechtsexpertin des Kinderhilfswerks "Terre des Hommes". Sie hält die strikte Ablehnung von Kinderarbeit im Fall von Bolivien für unangebracht. Stattdessen plädiert sie für eine flexible Auslegung der ILO-Konvention zu Kinderarbeit , weil "Verbote die Kinderarbeit in den Untergrund verbannen, wo die Ausbeutung der Kinder sehr viel einfacher ist". Wichtiger seien Kontrollen, die beispielsweise den Einsatz von Kindern in Bergwerken, Steinbrüchen oder bei der Zuckerrohrernte verhinderten.
Bolivien drohen Sanktionen
Die ILO lehnt die Legalisierung von Kinderarbeit in Bolivien dagegen weiterhin konsequent ab. Jetzt könnten dem Land Sanktionen auferlegt werden – die USA haben bereits vor dem Parlamentsbeschluss mit der Kürzung von Entwicklungshilfe gedroht . Da die Unesco und die Weltbank zahlreiche Sozialprojekte im Andenstaat finanzieren, würden schon geringe Einbußen das Land, insbesondere seine Kinder, hart treffen.
Von Sebastian Scholtysek