Stolpersteine im jüdisch-christlichen Dialog
Wieder einmal sorgt der emeritierte Papst Benedikt XVI. (2005-2013) mit einer Publikation für Aufsehen. Die internationale Theologiezeitschrift "Communio" publizierte in ihrer Juliausgabe "Anmerkungen zum Traktat 'De Iudaeis'". "Gnade und Berufung ohne Reue" ist der knapp 20-seitige Text überschrieben, der mit der Verfasserangabe "Joseph Ratzinger/Benedikt XVI." gekennzeichnet ist. Ratzinger habe den Text eigentlich nicht veröffentlichen wollen, schreibt Kardinal Kurt Koch in einem Geleitwort, es sollten Anmerkungen des Emeritus für den internen Gebrauch der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum sein, der Koch vorsteht. "Nachdem ich den Text eingehend studiert hatte, bin ich aber zur Überzeugung gekommen, dass die in ihm enthaltenen theologischen Reflexionen in das künftige Gespräch zwischen Kirche und Israel eingebracht werden sollten."
Aus einem internen Dokument wurde so ein öffentlicher Vorgang. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten: Christliche wie jüdische Stimmen kritisierten die darin vertretene Theologie deutlich. "Ein Beitrag für den Dialog mit dem Judentum ist dieser Aufsatz kaum", schreibt etwa der Jesuit und Judaist Christian Rutishauser in einer ausführlichen Kritik in der "Neuen Zürcher Zeitung".
Position des Konzils kritisch weiter bedenken
In seinem Aufsatz charakterisiert Ratzinger die "nach dem Konzil entwickelte neue Sicht des Judentums". Die bestehe zum einen aus der Ablehnung der "Substitutionstheologie", nach der der Alte Bund des Judentums dem Neuen Bund der Christen gewichen sei und durch ihn ersetzt würde, zum anderen durch die Rede vom "nie gekündigten Bund". An diesen beiden Fragen arbeitet er sich dann ab: "Beide Thesen – dass Israel nicht durch die Kirche substituiert werde, und dass der Bund nie gekündigt worden sei – sind im Grunde richtig, sind aber doch in vielem ungenau und müssen kritisch weiter bedacht werden."
Linktipp: Benedikt XVI. äußert sich zum christlich-jüdischen Dialog
Der emeritierte Papst hat in der Fachzeitschrift "Communio" einen Artikel veröffentlicht. Dieser beansprucht laut dem Herausgeber der Zeitschrift Jan-Heiner Tück jedoch "keinen lehramtlich-autoritativen Rang".Eine "Substitutionstheorie" im engeren Sinne sei erst mit dem Konzil in die Theologie gekommen. Ratzingers Beleg: Entsprechende Stichworte fehlen in vorkonziliaren theologischen Lexika und tauchen erst in den nachkonziliaren Auflagen auf. Methodisch wirkt das etwas kurzschlüssig. Auch wenn der Begriff erst nach dem Konzil lexikalisch abgebildet ist: Der theologische Gehalt ist älter. Das zeigt etwa schon Thomas von Aquins immer noch präsenter Hymnus "Tantum ergo sacramentum", der von dem "Neuen Bund" spricht, dem der Alte weichen muss. Den modernen Begriff "Substitutionstheorie" verwendet Thomas natürlich nicht; die theologische Figur ist aber keineswegs nachkonziliar.
Hermeneutik der Kontinuität
Theologische Positionen, die gegen eine vollständige Substitution des Alten Bundes sprechen, macht Ratzinger dagegen stark. Er betont, dass Israel in der Theologiegeschichte "unbestritten weiterhin Besitzer der Heiligen Schrift" sei und, Paulus zitierend, "dass ganz Israel gerettet werden wird". Ratzinger macht damit, wie häufig in seinem Werk, eine Hermeneutik der Kontinuität stark, anstatt Brüche des Konzils klar zu benennen. So überzeugend seine Herleitung einer positiven christlichen Theologie des Judentums auch ist, so befremdlich wirkt die Methode, theologische Begriffsgeschichte mit dem Index eines Lexikons abschließend zu betreiben.
Ansonsten ist die Einleitung in weiten Teilen unkontrovers. Benedikt zeichnet die Geschichte der gemeinsamen Wurzeln und der Unterschiede zwischen Christen und Juden und ihrem Verständnis der Schriften des Alten Testaments. Die großen Streitpunkte des Artikel stehen nicht in diesen einleitenden Abschnitten, sondern in der Ausführung der beiden Thesen: Benedikt will sowohl den Begriff der "Substitution" wie den des "ungekündigten Bundes" einer Revision unterziehen.
Er wendet sich gegen eine "statische Sicht von Gesetz und Verheißung, die hinter dem undifferenzierten Nein zur 'Substitutionstheorie' steht" und untersucht verschiedene Aspekte getrennt: den Tempelkult, die Kultgesetze, Recht und Moral, die Messiasfrage und die Landverheißung Israels.
Was kultische und moralische Gesetze angeht, sieht er keine Kontroverse und keine Ersetzung des Alten durch den Neuen Bund; das Nebeneinander ist für ihn unproblematisch. In der Frage nach dem Messias verweist er auf das Bemühen, das Alte Testament mit christologischem Blick zu lesen: "Im Unterwegssein mit Jesus wie die Emmaus-Jünger lernt die Kirche immerfort das Alte Testament mit ihm zu lesen und so neu zu verstehen." Ein schönes Bild einerseits. Andererseits geht Ratzinger auf die Problematik der Judenmission nirgends ein; mit dieser Unterlassung verliert das elegante Bild an frommer Unschuld.
Dynamische Sicht auf den Alten und den Neuen Bund
Bei der Frage nach Tempelkult und Eucharistie will Ratzinger eine dynamische Sicht anstelle einer statischen stellen: "So gibt es eigentlich in der Tat keine 'Substitution', sondern ein Unterwegssein, das schließlich eine einzige Realität wird und dennoch das notwendige Verschwinden der Tieropfer, an deren Stelle ('Substitution') die Eucharistie tritt." Ob graduell und dynamisch oder nicht: Hier ist sie, die Substitution. Israel ordnet Benedikt in die Geschichte des jüdischen Volkes ein. Der moderne Staat darf für ihn zwar "in einem weiteren Sinn die Treue Gottes zum Volk Israel ausdrücken", hat aber grundsätzlich einen "nicht-theologischen Charakter".
Wäre der Aufsatz an dieser Stelle stehen geblieben, wäre die ganz große Kontroverse wohl ausgeblieben. Der eigentliche theologische Sprengstoff folgt im vierten Abschnitt über den "nie gekündigten Bund"; gleich zu Anfang relativiert er ihn mit dem Argument, die Formulierung stamme nicht aus "Nostra Aetate", der Konzilserklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, sondern aus einer Rede von Johannes Paul II. Immerhin: Nachdem die Formulierung im Katechismus aufgegriffen worden sei, gehöre sie "in gewissem Sinn zur heutigen Lehrgestalt der katholischen Kirche".
Keine Kündigung seitens Gott
Das Unbehagen an der Formulierung liegt auch auf sprachlicher Ebene: "kündigen" gehöre "nicht zum Vokabular des göttlichen Handelns". Unbehagen hat Ratzinger außerdem am Singular des Bundes: Vielmehr müsse man von einer Geschichte von Bünden erzählen: "Für das Alte Testament ist 'Bund' eine dynamische Realität, die sich in einer sich entfaltenden Reihe von Bünden konkretisiert." Diese verschiedenen Bünde – mit Noe, Abraham, Mose, David – seien jeweils von Menschen gebrochen worden.
Linktipp: Das Verhältnis zu den Religionen
Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wagte eine große Anzahl an Bischöfen, eine neue Ära im Verhältnis zu den anderen Weltreligionen einzuläuten: mit der Erklärung "Nostra aetate". 2015 wird sie 50 Jahre alt.Insofern sei dann auch das Wort vom "nie gekündigten Bund" differenziert zu verstehen. Richtig sei, "dass es keine Kündigung von seiten Gottes gibt. Wohl aber gehört zur realen Geschichte Gottes mit Israel der Bundesbruch von seiten des Menschen, dessen erste Gestalt im Buch Exodus beschrieben wird." Wiederum betont Ratzinger ein dynamisches Geschehen, das "Drama der Geschichte zwischen Gott und Menschen". Eine derartige Dynamik im Bund zwischen Gott und Menschen sieht Ratzinger aber vor allem im Alten Bund. Ihm gegenüber stellt er den Neuen Bund: "Die Umstiftung des Sinai-Bundes in den neuen Bund im Blute Jesu, das heißt in seiner den Tod überwindenden Liebe, gibt dem Bund eine neue und für immer gültige Gestalt." Relativ abrupt endet kurz darauf der Text.
Naheliegende Einwände kommen erst gar nicht vor: Wenn der Alte Bund als dynamisches Geschehen, als Drama zwischen Gott und Menschen beschrieben wird – warum werden dann die 2.000 Jahre Geschichte des Neuen Bundes ausgeblendet? Als ob in diesen 2.000 Jahren nicht auch das Volk des Neuen Bundes sich oft genug vom Evangelium abgewandt hätte. Was Ratzinger über die Juden sagt – dass Gott ihnen treu ist, sie aber immer wieder Gott enttäuscht haben – ließe sich doch genauso über die Christen sagen. Doch Ratzinger tut es nicht: Das ist das Anstößige an dem Aufsatz. Ratzinger will die Theologie des Judentums weiterentwickeln, dabei unterlaufen ihm aber immer wieder Formulierungen, die nach Rückschritt klingen.
Alte Wunden wieder aufgerissen
Die unselige Tradition der Darstellung der Juden als verstockt, verblendet und verworfen kommt in den Sinn, wenn Ratzinger nüchtern die Geschichte des frühen Christentums resümmiert, ohne dass er diese Anklänge zu bemerken scheint: "Wie wir wissen, hat nur ein eher kleiner Teil Israels diese Antwort [das Christentum] anzunehmen vermocht, während der größere Teil sich ihr widersetzte und auf andere Weise eine Lösung suchten musste." Den Aufsatz schließt er mit einem Schriftzitat aus dem zweiten Timotheusbrief: "Wenn wir standhaft bleiben, werden wir auch mit ihm herrschen; wenn wir ihn verleugnen, wird auch er uns verleugnen. Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen."
Solche Stellen unkommentiert zu verwenden, ist fahrlässig. Ein wesentlicher Teil der Geschichte des christlichen Antijudaismus ist die Darstellung der Juden – bis hinein in die Liturgie – als verstockt, untreu und verblendet. Dass Ratzinger solche Fahrlässigkeiten unterlaufen, ist nicht neu. Schon während seines Pontifikats war das der Kern der Kontroverse um die von Benedikt angepasste Karfreitagsfürbitte im außerordentlichen Ritus.
Während im ordentlichen Ritus die alte Bitte für die Bekehrung der Juden ersetzt wurde durch die Bitte, dass Gott sie "in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen" bewahren möge, "damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will", geht die von Benedikt 2008 approbierte Fassung dahinter zurück. Nun wird im außerordentlichen Ritus für die Juden gebetet, "dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen" – ohne Sensibilität für das heikle Thema der Judenmission, das zu diesem Zeitpunkt eigentlich Geschichte sein sollte.
Binnenkirchliche Theologie statt Dialog
2009, bei seinem Besuch in Auschwitz, hielt Benedikt eine viel kritisierte Rede, in der nicht von altem und neuem Antisemitismus und dem Versagen der Kirche die Rede war, stattdessen vom deutschen Volk, das selbst Opfer einer "Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen" wurde und daher als bloßes "Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und mißbraucht" werden konnte. Das Menschheitsverbrechen gegen die Juden deutete er theologisch als Verbrechen gegen das Christentum; als ob es eigentlich gar nicht um die Juden gehen würde: "Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah, sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht und endgültig durch den neuen, selbstgemachten Glauben an die Herrschaft des Menschen, des Starken, ersetzt werden."
Theologisch vertritt Ratzinger in all diesen Fällen, auch dem aktuellen, eine durchaus stringente und nachvollziehbare Linie – allerdings eine, die dabei sehr selbstgenügsam binnenkirchlich und binnenchristlich bleibt, während sie das jüdische Gegenüber nicht als Dialogpartner im Blick hat und ohne dass das Judentum eine positive und eigenständige Bestimmung im Heilsplan Gottes auch nach dem Schluss des Neuen Bundes bekommt. Der Herausgeber von "Communio", Jan-Heiner Tück, formuliert diese Kritik zurückhaltend. Ratzinger habe sich "ausschließlich mit der Schärfung innerchristlicher Sprachregelungen" befasst, er führe aber "nicht eigentlich ein Gespräch mit der jüdischen Theologie" – und anscheinend auch mit niemandem, der zurecht empörte Reaktionen wie die des Rabbiners Walter Homolka im Blick hat. Bei Formulierungen wie "untreu" und "widersetzen" hat dieser die Leidensgeschichte der Juden vor Augen, denen Christen mit diesen Wörtern im Mund als Täter gegenüberstanden.
Pontifikat von herzlichem Verhältnis zum Judentum geprägt
"Wer die Rolle des Judentums so beschreibt, baut mit am Fundament für neuen Antisemitismus auf christlicher Grundlage", sagte Homolka. Dass es Ratzinger eigentlich nicht darum geht, eine antijüdische Theologie zu formulieren, dürfte unbestritten sein. Während seines Pontifikats gab es nicht nur die Karfreitagsfürbitte und die Auschwitz-Rede. Während des Weltjugendtags in Köln nahm er in der dortigen Synagoge am Kaddisch für die Holocaust-Opfer der Stadt teil; sowohl der Vorsteher der Gemeinde, Abraham Lehrer, wie der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, würdigten ihn als Brückenbauer und seinen Besuch als hoffnungsvolles Zeichen für das christlich-jüdische Verhältnis. Anlässlich seines Rücktritts waren jüdische Stimmen voll des Lobes. Der israelische Oberrabbiner Jona Metzger sprach von den "besten Beziehungen zwischen der Kirche und dem Oberrabbinat" während seiner Amtszeit; auch Israels Staatspräsident Schimon Peres und der Präsident des jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, betonten das gute Verhältnis.
Umso unverständlicher wirkt, dass neben dem unbestritten positiven und konstruktiven Verhältnis zum Judentum im Tun seines Pontifikats wiederholt und jetzt wieder solche theologischen Stolpersteine gelegt werden – und dass sein Umfeld ihn nicht vor sich selbst und seinen Kontexte ausblendenden Formulierungen schützt und ihn zu Kontextualisierung anhält. Immer wieder zeigt sich so der von seinen Bewunderern als "Mozart der Theologie" Hochgelobte erstaunlich schwerhörig dafür, was die Untertöne seiner Theologie auslösen.