"Bischweija" heißt langsam
Said, ein ehrenamtlicher Dolmetscher, steht in der Nähe. "Ich brauch Dich", sag ich, "das Baby muss zum Arzt. Sofort". Said bringt Mutter und Kind fort, zur medizinischen Erstuntersuchung. Als er zurückkommt, berichtet er, es sei völlig dehydriert, die Mutter habe keine Milch. Ich erinnere mich an meine Monate als "Missionarin auf Zeit" in Guatemala. Als in "meiner" Klinik ein fünf Wochen altes Baby starb. Dehydriert, dann eine Blutvergiftung, Hirnhautentzündung. Damals weinte ich tagelang. Heute hätte ich keine Zeit dazu. Es stehen noch so viele Menschen hinter der Absperrung.
Ich nehme in meine Checkliste auf: Den nächsten Freiwilligen bei der Übergabe erklären, dass dünne apathische Babys in Decken gehüllt direkt zum medizinischen Dienst gebracht werden sollen. Es kommt dann schon jemand von den Hilfsdiensten, um bei uns in der provisorischen Kleiderkammer das Nötigste zu holen. Zu der Aufgabe, Menschen mit Kleidern zu versorgen, kam ich spontan. Ich hatte mich als Helferin für den Münchner Hauptbahnhof gemeldet und mich dann selbst an den Tisch mit den Kleiderbergen eingereiht.
Sortieren auf verschiedene Stapel
Der Nachmittag ist ruhig, wir sechs, sieben junge Frauen organisieren uns selbst. Die Kleiderspenden sind grob vorsortiert: Männer, Frauen, Kinder. Wir sortieren nach: Sommerklamotten braucht keiner mehr, sie kommen in andere Lager. Schmutzige Kleidung kommt in eine Mülltüte. Frauenpullover, -jacken und Schals in neutralen Farben kommen auf die Männer-Stapel, denn wir brauchen mehr Kleidung für Männer.
Wir bekommen Einmalhandschuhe und Gesichtsmasken. Angeblich eine Vorschrift des Gesundheitsamts. Keine von uns zieht sich die Maske übers Gesicht, alle haben sie unters Kinn gebunden. Wir sprechen darüber, dass wir uns blöd vorkämen, wenn wir aussehen, als ob wir denken: "Ihr bringt bestimmt Krankheiten mit!" – Wenn, dann sind das Masern, erzählt uns ein Sanitäter, dagegen sind wir eh geimpft. "Oder Tuberkulose." Die Worte bleiben in der Luft hängen. Beim medizinischen Dienst, sagt er, trägt trotzdem keiner einen Mundschutz.
Plötzlich geht alles schnell: "In 10 bis 15 Minuten kommt ein Zug mit angeblich 150 bis 200 Flüchtlingen an Bord", ruft uns jemand vom Infodesk zu. Einige Helfer gehen mit Polizisten zum Gleis. Ein älterer Herr mit langen grauen Locken bekommt ein Megaphon und begrüßt die Menschen auf Arabisch. Währenddessen erklärt mir Yasmin, eine Halbägypterin, die dolmetscht: "bischweija" heiße langsam. "Sag immer bischweija, bischweija, wenn zu viele auf Dich zustürmen". Die Flüchtlinge kommen an die Absperrung, die Polizei lässt sie nur in Gruppen durch zu uns. Familien mit Kindern zuerst.
Kurze Hosen, Plastiksandalen oder keine Schuhe, keine Jacken. So kommen viele. Manche Kinder freuen sich über Plüschtiere, andere lehnen sich an eine Kleiderkiste und schlafen fast im Stehen ein. Nur wenige weinen. Viele sind apathisch, die Strapazen der langen Reise sieht man allen an. Notdürftig versuchen wir sie einzukleiden. "Alles was wärmt" ist die Devise. In den Erstaufnahmeeinrichtungen, heißt es, bekämen die Flüchtlinge mehr. Auch wenn wir immer "bischweija" sagen, wissen wir doch, dass wir eigentlich "yallah, yallah" machen müssen – schnell. Denn die nächste Gruppe steht hinter der Absperrung und friert.
Manche lassen alles über sich ergehen, schicksalsergeben. Andere sind wählerisch. "Too big", sagt eine Frau, der wir eine übergroße Jacke in die Hand drücken. Einigermaßen passen sollen die Sachen schon. Ein Junge verzieht das Gesicht, als ihm eine Helferin eine Wollmütze über den Kopf zieht. Er hat im Mützenkarton eine Schirmmütze mit dem Bayern-München-Logo entdeckt und die hat es ihm offenbar angetan. Ich angle das Cappy aus dem Karton und drücke es dem Buben strahlend in die Hand. Er strahlt zurück. Die Kollegin mit der Wollmütze meckert: "Die Mütze ist wärmer und überhaupt, der kann es sich doch hier nicht aussuchen." Ich meine, in seinen Augen Hoffnung zu sehen, Balsam für meine Seele. Was bin ich froh, dass nicht alle Flüchtlinge, die zu uns kommen, gebrochen sind! Die warme Wollmütze stecke ich dem Vater zu, er sagt "God bless you".
Schwer zu ertragende Erlebnisse
Nach der Kleiderausgabe geht es an der Essensausgabe vorbei und dann zur medizinischen Erstuntersuchung, so wird uns erklärt. Dann in Busse, für eine Nacht in eine Messehalle zum Beispiel. Manche Helfer flitzen die ganze Zeit hin und her, sie tragen spärliches Gepäck oder erschöpfte Kinder. Eine junge Freiwillige kommt zurück zum Infodesk gleich gegenüber von den Kleidertischen. Sie bricht in Tränen aus. "Du glaubst nicht, was ich gerade für eine Geschichte gehört habe", schluchzt sie. Ich sage "scheiße", lege kurz den Arm um sie und lass sie weinen. Die Geschichte will ich nicht hören. Selbstschutz. Ich kann schon schwer ertragen, was wir sehen.
Um acht Uhr kommen neue Helfer. Ich bin zur Doppelschicht eingetragen und bleibe an meinem Standort, weise die neuen ein. Es ist ruhig, ein älteres Ehepaar sortiert die Männerklamotten nach Größe und es rührt mich, wie liebevoll sie die Pullover falten und stapeln. Immer wieder werde ich zum Infodesk gerufen, es ist wieder jemand mit Spenden da. Wir können nicht alles annehmen. Keine Tennisschläger, keine Nylonstrumpfhosen. Zwei alte Damen kommen mit einem Koffer voller feiner weicher Pullover - das beste, was wir kriegen können und wir brauchen sie dringend. "Wir sind selbst Flüchtlinge", sagen sie, "aus Ostpreußen". An den Pullovern sind noch die Etiketten.