Brandmüller: "Christliches Experiment" wagen
Europa solle sich auf das christliche Verständnis von Mensch und Welt als Wertegrundlage verständigen, fordert Kardinal Walter Brandmüller in der Onlineausgabe der Tagespost. Der Beitrag des Christentums für ein lebenswertes Europa liege darin, auf das Naturrecht und die Wahrheit zu verweisen sowie der Gesellschaft "ihren wesentlichen Transzendenzbezug neu bewusst zu machen". Die Kirche, die sich als Anwalt des Menschen verstehe, sehe ihre Aufgabe in der "Reparatur der humanen Fundamente".
Europa stehe den derzeitigen Herausforderungen ratlos gegenüber, so Brandmüller. Das Christentum könne – noch vor der Verkündigung des Evangeliums –zur "Wiederinstandsetzung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens" beitragen. Darunter versteht Brandmüller eine Absage an das, was den Menschen nur nach seinem Nutzwert betrachtet, wie Organhandel, Abtreibung, reproduktive Medizin und Unternehmen, die auf maximierte Gewinne zum Nachteil der Konsumenten setzen. Daher weise die Kirche auf die grundlegende Bedeutung des Naturrechts als Voraussetzung für neue Zukunftsperspektiven hin: Das Naturrecht, dass sich "aus dem Wesen von Mensch und Welt" ergibt und "immer und für alle ohne Ausnahme" gültig ist, soll die Einmaligkeit der Person und ihre Würde garantieren.
Die Wahrheit spielt keine Rolle
Ein weiterer Beitrag sei, "der Gesellschaft von heute begrifflich zu machen, was Wahrheit für sie bedeutet". Brandmüller führt aus, dass die großen politisch-kulturellen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie auch die "Verfallserscheinungen der Gegenwart" ihre Ursachen in einer weitverbreiteten Geisteshaltung hätten, für die Wahrheit keine Rolle spiele. Daher solle nicht die Frage nach dem Nutzen oder der Machbarkeit entscheidend sein, sondern die danach, was wahr sei. Das setze zwingend die Existenz und die Erkennbarkeit einer übersubjektiven Wahrheit voraus – auf diesen "Creator Spiritus" verweise zwingend auch die nahtlose Übereinstimmung von Denken und Sein. "Ebenso wenig wie menschliches Leben ohne das natürliche Sittengesetz und die Verankerung in der Wahrheit gelingen kann, können die Existenz von Welt und Mensch ohne Gott gedacht werden."
So sei der letztendlich entscheidende Beitrag der Kirche für die Zukunft Europas, den Zugang zur Transzendenz offenzuhalten: "Ein Individuum, eine Gesellschaft, die dieses wesentliche Bezogensein auf Transzendenz entweder nicht erkennt oder gar bewusst leugnet, verschließt sich selbst die entscheidende Dimension menschlicher Existenz." Um dies umzusetzen, bleibe allerdings nur die Macht des Arguments. Das sei die Frage nach der Zukunft Europas. Eine Gesellschaft, die den "Dekalog des Alten und die Bergpredigt des Neuen Testaments" zum Maßstab hätte, sei eine "weit menschenfreundlichere" als die heutige. Daher solle das krisengeschüttelte Europa die Neugier und den Mut aufbringen, "das christliche Experiment" zu wagen. (jhe)