Gastbeitrag des Direktors des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes

Das ist kein Tourismus. Das ist Flucht.

Veröffentlicht am 20.06.2018 um 14:05 Uhr – Lesedauer: 
Weltflüchtlingstag

Berlin ‐ Verbale Entgleisungen bis in die Mitte der Gesellschaft: Pater Claus Pfuff, der neue Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, beklagt in einem Beitrag für katholisch.de eine sprachliche Verrohung.

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Das vergangene Jahr habe ich im Ausland verbracht. Ich verließ Deutschland als ein Land, das für seine Willkommenskultur weltweit bewundert wurde und sich selbst für seine Menschlichkeit gefeiert hat. Doch das Diskussionsklima ist umgeschlagen. Seit meiner Rückkehr erschrecke ich über die Kälte, mit der über das Schicksal von Menschen auf der Flucht gesprochen wird. Manche Vergleiche entmenschlichen sie und rufen das Gefühl einer Bedrohung hervor – wenn beispielsweise Flüchtende mit Naturkatastrophen gleichgesetzt werden. Andere verharmlosen das Leiden auf der Flucht. Leider sind es auch prominente Angehörige christlicher Parteien, die extremistische Schlagworte zu einem alltäglichen Bestandteil unserer Sprache machen. Aber eine Sprache, die unser Mitgefühl erstickt, birgt Gefahren für die ganze Gesellschaft.

Obwohl Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, richtet sich alle Aufmerksamkeit auf die Abwehr und Kriminalisierung von Flüchtenden. Dabei sind von den 68,5 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, im vergangenen Jahr weniger als 200.000 nach Deutschland gekommen – eine geringe Zahl für ein so großes und wirtschaftsstarkes Land. Noch geringer ist die Zahl derjenigen, um die sich der Streit zwischen CSU und CDU dreht: An den deutschen Grenzen wurden 2017 nach Angaben der Bundesregierung 15.414 Asylanträge gestellt.

Eine radikale Minderheit bestimmt das politische Klima

Dass ein paar Tausend Asylsuchende als Vorwand für eine Regierungskrise dienen, ist mir unverständlich. Denn wenn ein Innenminister die Regierung zwingt, alles von diesem einen Thema abhängig zu machen, geraten die politischen Verhältnisse aus den Fugen. So erweckt die Politik den Anschein, als gäbe es keine anderen Aufgaben – in Bezug auf Wohnungsbau, Bildungssystem, Rentensicherheit, Gesundheitswesen, Digitalisierung oder Klimawandel. Aber wenn Nationalismus und eine angeblich einheitliche Identität, für die sogar das Kreuz herhalten muss, die Antwort auf Fragen unserer Zeit sein soll: Dann begeben wir uns auf eine abschüssige Bahn. Auch deshalb ist es so bedenklich, dass das natürliche Mitgefühl aus der öffentlichen Debatte verschwindet.

Empathievermögen gehört zum Menschsein: Wir leiden, wenn wir andere in Not sehen, und wir wollen helfen. Wir haben das im Herbst 2015 erlebt, und das ehrenamtliche Engagement im Flüchtlingsbereich ist bis heute immens. Doch statt diese Bereitschaft zu fördern, bestimmt eine radikale Minderheit das politische Klima. Ihre Schlagworte finden Eingang in unseren Alltag: Worte, die existenzielle Not verleugnen, Unschuldige kriminalisieren und Hartherzigkeit rechtfertigen. Diese Sprache trägt dazu bei, dass der Nächste nicht mehr als Individuum, als Mitmensch wahrgenommen wird, sondern in eine Schublade gepackt wird, die mit bedrohlichen Vorurteilen beschriftet wird.

Themenseite: Auf der Flucht

Die Flüchtlingskrise fordert Staat, Gesellschaft und Kirchen mit ganzer Kraft heraus. Auch die katholische Kirche in Deutschland engagiert sich umfangreich in der Flüchtlingsarbeit. Weitere Informationen dazu auf der Themenseite "Auf der Flucht".

"Illegale Migration" ist eines dieser bewusst verhärtenden Worte. Denn was soll das in einer Zeit bedeuten, in der es keine legalen Zugangswege für Menschen auf der Flucht mehr gibt? Der Name "Ankerzentren" für die geplanten Massenunterkünfte für Asylsuchende führt ebenfalls in die Irre: Der Anker – christliches Symbol der Hoffnung – verspricht Verlässlichkeit und Sicherheit. Tatsächlich sprechen die Einrichtungen diesen Vorstellungen Hohn. Asylsuchende werden isoliert, der Kontakt zur Nachbarschaft ebenso erschwert wie der Zugang zu unabhängigen Beratungsstellen.

Vor ein paar Tagen hat es das Wort – besser: Unwort – vom "Asyltourismus" aus den braunen Seiten des Internets in die Tagesschau geschafft. Es blieb unwidersprochen, unkommentiert. Leider war es auch diesmal ein Politiker aus einer christlichen Partei, der die Normalisierung dieser manipulativen Sprache vorangetrieben hat. Menschen, die ihr Leben riskieren müssen, um es zu retten, weil Europa sich immer weiter abschottet, sind nicht auf einer Urlaubsreise! Selbst innerhalb Europas ist für viele der Alptraum noch nicht vorbei.

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst unterstützt mehrere Kirchenasyle, die Rückführungen innerhalb Europas betreffen. Eine alleinstehende schwarze Frau sollte in Italien in die Prostitution gezwungen werden. Ein Jeside aus dem Irak, der den Massakern des IS entkommen konnte, hat sich zu Angehörigen geflüchtet, die schon lange in München heimisch sind. Ein syrischer Student wurde in Bulgarien misshandelt und gefoltert. In Griechenland hat ein afrikanischer Handwerker rassistische Gewalt, Hunger und Obdachlosigkeit erlitten. Sich aus diesen Situationen zu retten, ist kein "Tourismus". Es ist Flucht. Wer sich nicht von Wahlkampfgetöse und Worthülsen täuschen lässt, sondern den einzelnen Menschen anschaut, wird die Not sehen und entsprechend handeln.

Bild: ©JRS/Christian Ender

Pater Claus Pfuff ist der neue Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS) in Deutschland.

Eine weitere verbale Entgleisung der jüngeren Zeit: Die "Anti-Abschiebe-Industrie". Es ist gefährlich, wenn ein Repräsentant unserer Demokratie einen Pfeiler unseres Rechtsstaats untergräbt: die Möglichkeit, behördliches Handeln vor Gericht überprüfen zu lassen. Tatsächlich gibt es keine solche "Industrie", sondern einzelne, engagierte Anwälte oder Beratungsstellen, die oft mit Herzblut und für wenig Geld versuchen, Schutzsuchenden zu ihrem Recht zu verhelfen. Auch der Jesuiten-Flüchtlingsdienst unterstützt mit seinem Rechtshilfefonds und seiner Rechtsberatung Flüchtlinge dabei, Entscheidungen vor Gericht überprüfen zu lassen, oft mit Erfolg. Das ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass Glaube und Gerechtigkeit zusammengehen müssen. Bundesweit wurden rund 31.000 fehlerhafte Asylentscheide im Jahr 2017 von Verwaltungsgerichten zugunsten der Schutzsuchenden korrigiert. Das bedeutet: Fehlentscheidungen zu Lasten von 31.000 Menschen, bei denen teilweise ihr Leben auf dem Spiel stand! Schlagzeilen jedoch machte diese Nachricht nicht.

Wir stumpfen ab. Leidtragende dieser Verrohung sind nicht nur die Menschen auf der Flucht. Denn eine solche Ent-Solidarisierung macht nicht vor einer einzelnen Gruppe von Ausgegrenzten Halt. Sie hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Heute trifft sie vor allem Asylsuchende und Menschen, die muslimischen Glaubens sind oder dafür gehalten werden. Morgen oder übermorgen kann diese Ausgrenzung und Empathielosigkeit beliebig andere treffen.

Unsere Nächsten in ihrer Einmaligkeit wahrnehmen

Statt das Kreuz zu einem staatlich verordneten Symbol der Ausgrenzung zu machen, kann die Ausrichtung am Vorbild Christi im Gegenteil heißen: Jeden einzelnen Menschen in den Blick zu nehmen und sich nicht von Schubladendenken und Vor-Verurteilungen leiten zu lassen. Statt uns von Worten blenden zu lassen, können wir uns unseren Nächsten zuwenden, um sie jeweils in ihrer Einmaligkeit wahrzunehmen – mit ihren Stärken, Erfahrungen, Schwächen und Möglichkeiten.

Aus Erfahrung weiß ich: Die Begegnung mit Menschen verändert mein Denken, Fühlen und letztlich auch mein Sprechen über sie. Die Sprache kann umgekehrt auch die Begegnung erleichtern. "Langsam, achtsam und liebevoll" zu sprechen, hat Ordensgründer Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert seinen Gefährten für die kirchenpolitische Diskussion empfohlen. Dieser Dreiklang wäre auch in Zeiten von Internet und Wahlkampf wohltuend. Wenn Christen häufiger ihre Worte "langsam, achtsam und liebevoll" wählen, kann diese Gesellschaft wieder warmherziger und lebenswerter werden.

Von Pater Claus Pfuff

Der Autor

Pater Claus Pfuff (*1965) ist seit vergangener Woche neuer Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS) in Deutschland. Pfuff stammt aus dem bayerischen Weilheim und trat 2009 in den Jesuitenorden ein; zuletzt war er als Schulseelsorger am Berliner Canisius-Kolleg tätig.