Das Meer holt sich den Mönchsberg zurück
Es war die Öffnung für den Massentourismus. Erst mit den Jahrzehnten wurde deutlich, dass die Natur mit dem Damm als Hindernis nach ihrer Art verfuhr: Der mit der Flut angeschwemmte Sand floss nicht mehr ab. Die Bucht versandete, jedes Jahr 200 Hektar; die Klosterinsel verwuchs mit dem Festland.
Früher lagen mehrere Kilometer zwischen Festland und Mont Saint-Michel; heute sind es nur noch wenige hundert Meter. Tatsächlich reichen die Salzwiesen, auf denen die berühmten Lämmer der Region weiden, bei Ebbe fast bis an die äußeren Grenzen des Felsens heran. Doch es mussten wiederum viele Jahrzehnte vergehen, bis die Einsicht dämmerte: Wir müssen die kulturlandschaftliche Einmaligkeit des Mont Saint-Michel wiederherstellen.
Seit 1995 läuft ein Renaturierungsprojekt sondergleichen. Und seit dieser Woche ist dafür ein Meilenstein erreicht: Der Klosterberg ist nun über eine neue, auf Stelzen errichtete Brücke mit dem Festland verbunden. An diesem Dienstag, zur Haupttouristenzeit des Jahres, wird der neue, über 760 Meter mäandernde Steg des österreichischen Architekten Dietmar Feichtinger für die Besucher freigegeben.
Mehrere hundert Millionen Euro haben französischer Staat, EU und die Regionen Normandie und Bretagne seit 1995 in die Hand genommen. Der erste zentrale Schritt war die Errichtung einer Stauanlage am Flüsschen Couesnon, das beim Mont Saint-Michel in den Ärmelkanal fließt. Mit Hochdruck wird damit der Sand aus der Bucht geschwemmt, allein durch die Wasserkraft des Flusses. Die Stauanlage dient auch als Info- und Aussichtsplattform. Seit ihrer Eröffnung 2009 ist sie ein beliebter Stopp für Fotografen.
Seit 2012 sind die früher allgegenwärtigen Parkplätze ins Hinterland verlagert. Damit ist die störende Blechlawine der Tagestouristen von der malerischen Kulisse verschwunden. Seitdem ist zwar ein knapper Kilometer Fußweg zwischen dem (nicht gerade billigen) Parkplatz und dem neu geschaffenen Pendelverkehr zurückzulegen. Und egal welchen der drei Wege man wählt, kostenloser Shuttle-Bus, Pferdekutsche oder Fußweg: Eine gute Stunde muss man für Hin- und Rückweg einplanen.
Händler und Restaurantbesitzer schimpfen über verschlechterte Anreisebedingungen für die Touristen, also ihre Kunden, und für den Verkehr von Waren und Angestellten. Doch immerhin kann auf diese Weise vielleicht zumindest wieder ein wenig mehr von jenem Eindruck entstehen, den einst die mittelalterlichen Pilger hatten, wenn sie sich dem "Heiligen Berg" nach oft wochenlanger Wallfahrt näherten. Ein Ort der Stille wird er wohl so oder so nie mehr werden.
Bautechnisch beginnt nach Vorstellung der Ingenieure mit der Inbetriebnahme des neuen Damms nun bereits das Nachspiel: Von Oktober bis Frühjahr 2015 werden der alte Straßendamm und die übrigen Reste der sündigen Tourismus-Vergangenheit abgetragen. Freilich wird es auch dann immer noch viele Jahre dauern, bis die Natur den einstigen maritimen Charakter wiederhergestellt haben wird. Experten gehen davon aus, dass durch die Stauanlage am Cuesnon binnen zehn Jahren 80 Prozent der Sedimente verschwinden könnten.
Wenn das tatsächlich so eintrifft, würde sich der Wasserstand in der Bucht langfristig um rund 70 Zentimeter erhöhen. Je nach Fluthöhe, so die Planung und Hoffnung, könnte der Mont Saint-Michel künftig wieder bis zu 90 Mal pro Jahr ganz vom Meer umgeben sein. Er würde - wie vor einer Woche bereits eindrucksvoll anzuschauen - endlich wieder eine richtige Insel.