Den Sinn des Lebens entdecken
Frage: Pater Anselm, warum braucht der Mensch überhaupt einen Lebenssinn?
Grün: Weil er daraus Kraft und Energie schöpfen kann. Sinn duldet keinen Stillstand, er bringt in Bewegung und motiviert, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich Herausforderungen zu stellen. Wer für sich keinen Lebenssinn findet, wird unzufrieden und ist anfällig für Stress und psychosomatische Störungen bis hin zur Depression.
Frage: Durchstehen Menschen Krisen leichter, wenn sie ihren Lebenssinn gefunden haben?
Grün: Ja. Der Lebenssinn lässt mich positiv in die Zukunft schauen. Er gibt mir die Kraft, auch in Krisenzeiten die Hoffnung nicht zu verlieren. Davon war der bedeutende österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Emil Frankl fest überzeugt. Dass er sechs Konzentrationslager überlebte, führte er darauf zurück, dass er klare Vorstellungen von seiner Zukunft hatte und voller Gottvertrauen daran glaubte. Auch unter schlimmsten Bedingungen verlor er sein Lebensziel nicht aus dem Blick. Die Liebe seiner Frau gab ihm zusätzlich Kraft.
Aus seinen Beobachtungen im KZ Auschwitz schloss Frankl: Menschen, die auf die Zukunft ausgerichtet waren, auf einen Sinn, den sie erfüllen wollten, waren am ehesten fähig, Grenzsituationen wie im KZ zu überleben – im Gegensatz zu Menschen, die keinen Sinn mehr in ihrem Leben sahen. Aus dieser Erkenntnis entwickelte der berühmte Wissenschaftler später die Logotherapie.
Frage: Wie kann es gelingen, den eigenen Lebenssinn zu finden? Wo finden Menschen Sinn?
Grün: Sinn finden Menschen dann, wenn ihr Leben stimmig ist, wenn sie es selbst in die Hand nehmen und gestalten – und damit für sich eine Lebensspur eingraben. Es geht dabei nicht darum, Großes zu leisten, sondern seiner Berufung zu folgen: dem, was das Herz bewegt, was berührt und lebendig macht. Ihre Berufung können Menschen in der Familie finden, im Beruf, im künstlerischen Schaffen oder im ehrenamtlichen Einsatz.
Frage: Wie wichtig sind andere Menschen, das Engagement für andere? Wie wichtig der Beruf, eine ausgefüllte Freizeit?
Grün: Viele Menschen sehen in der Familie oder in der Partnerschaft ihren Sinn. Andere gehen voll und ganz in ihrem Beruf auf, in einem Hobby oder in einer ehrenamtlichen Tätigkeit. In der Summe stärkt jeder dieser Bereiche für sich den Lebenssinn. Doch keiner von ihnen sollte das Leben einzig und allein bestimmen. Zu viel Arbeit, zu viel Einsatz für die Familie, zu viel ehrenamtliches Engagement oder ein Übermaß an Freizeit überfordern auf Dauer. Die Balance zwischen Geben und Nehmen muss ausgeglichen sein.
Frage: Haben es gläubige Menschen leichter, Sinn im Leben zu entdecken?
Grün: Ja, denn die christliche Botschaft ist eine Heilsbotschaft. Für viele Christen ist die Bibel eine Quelle, aus der sie schöpfen und leben. Sie finden darin entscheidende Wegweiser und Beispielgeschichten für geglücktes Leben. Dem russischen Dichter Leo Tolstoi schien – nach langen Zweifeln und Zeiten der Schwermut – einzig und allein der Glaube als sinnstiftend. Nach dieser Erkenntnis lebte er auf. Sinnstifter sind aber auch die Rituale und Feste im Kirchenjahr: kleine Auszeiten, die dem Alltag Sinn geben und ihn aus der Banalität des täglichen Trotts herausheben. Rituale laden ein, bewusst inne zu halten und so neue Lebenskraft und Lebensfreude zu schöpfen.
Frage: Gelingt es den Kirchen heute noch, sinnstiftende Inhalte zu vermitteln?
Grün: Leider nicht immer. Viele Menschen erhalten auf ihre Fragen keine Antworten, obwohl ihre spirituelle Sehnsucht groß ist. Doch zum Glück gibt es immer mehr Angebote außerhalb der Gottesdienste, die Menschen auf der Suche nach Lebenssinn unterstützen.
Frage: Welche kirchlichen Angebote helfen Menschen bei der Suche nach mehr Sinn im Leben?
Grün: Auszeiten, etwa im Kloster, tun gut. Sich zurückziehen bedeutet, mit sich selbst und der eigenen Seele in Berührung zu kommen und zu hinterfragen: Stimmt mein Leben noch? Dazu braucht es Zeiten des Innehaltens. Dies gilt auch für Exerzitien, bei denen man sich etwa eine Woche lang intensiv dem Gebet und der Besinnung widmet. Aber auch Wallfahrten und Pilgerwege können bei der Suche nach mehr Sinn unterstützen. Pilgern liegt im Trend. Aber es steckt viel mehr dahinter, als sich nur gemeinsam mit anderen oder allein auf den Weg zu machen. Letztlich ist es immer die Sehnsucht, sich freizugehen von den alten Lebensmustern.
Frage: Wie steht es um das Verhältnis von Sinn und Glück?
Grün: Etwas zu tun, von dem ich überzeugt bin, macht Sinn. Auch ein guter mitmenschlicher Umgang stiftet Sinn, ebenfalls das Wissen, sich Herausforderungen gestellt zu haben. Sind diese drei Bereiche – schaffen, Beziehungen pflegen und Herausforderungen meistern – ausgeglichen, empfinde ich nicht nur Sinn, sondern auch Glück.