Der "Headhunter für Asoziale"
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Der Express nannte ihn den "Erzbischof der Herzen", der Kölner Stadt-Anzeiger gab ihm den Spitznamen "Kölns 'Don Camillo'" und der Stern sieht in ihm einen "Ghetto-Prediger": Gemeint ist Pfarrer Franz Meurer. Der Geistliche weist Zuschreibungen dieser Art in breitem Kölsch mit einem ebenso breiten Grinsen zurück: "Su ene Quatsch!" – "So ein Quatsch!" Dabei haben einige dieser "Titel" doch etwas Wahres an sich. Das weiß auch Meurer und bezeichnet sich selbst ironisch als "Headhunter für Asoziale" – denn Fernsehteams fragen regelmäßig bei ihm an, wenn sie prekäre Darsteller für Reality-Sendungen suchen.
587 Schlüssel für die Kirche sind im Umlauf
Tatsächlich kennt sich Meurer als Priester in den Kölner Problemstadtteilen Höhenberg und Vingst mit Menschen in schwierigen Lebensumständen aus. "Hier sind 27 Prozent aller Bewohner überschuldet", sagt der Sozial-Pfarrer, der in dem Viertel die Pfarrei St. Theodor und St. Elisabeth leitet. Doch der 66-Jährige hat erkannt, dass in dieser problematischen Situation auch Chancen stecken: "Die Armut ist unsere Power!" Dies zeige sich etwa am starken Zusammenhalt in den Bezirken. In der Gemeinde engagierten sich viele Menschen. Alles sei ein "Wir", sagt Meurer. Insgesamt 587 Schlüssel für die Kirche und das angeschlossene Gemeindezentrum seien deshalb unter den Gläubigen im Umlauf. Einfach so, ohne weitere Kontrolle.
Dieses Vertrauen innerhalb der Kirche kennt Meurer schon seit seiner Jugend. Er ist ein echtes Kölner Original und wuchs in der Bruder-Klaus-Siedlung im Nordosten Kölns in einfachen Verhältnissen auf. Er hat heute noch gute Kontakte zum Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, denn beide stammen aus dem gleichen Bezirk. So schrieb einst der ein paar Jahre ältere Meurer, damals schon Priester, für seinen heutigen Erzbischof das Empfehlungsschreiben zur Aufnahme ins Priesterseminar. Er habe geschrieben, Woelki sei "sicher berufen", erinnert sich Meurer und grinst.
Während seiner Kindheit und Jugend engagierte er sich in der örtlichen Pfarrei. Hier schaute er sich den Umgang mit den Schlüsseln ab: Die Verantwortung lag allein bei den Jugendlichen, "ohne, dass der Kaplan sich einmischte", so Meurer. Dieses Vertrauen will er auch in seiner Gemeinde leben. Schon zu Studienzeiten empörte er sich über soziale Ungleichheiten. Die logische Konsequenz war für ihn deshalb, nicht nur Theologie, sondern auch Sozialwissenschaften zu studieren.
Meurer beschäftigt sich nicht nur wissenschaftlich mit der Gesellschaft, sondern mischt auch gerne bei sozialen Diskussionen mit: Er ist ein häufiger Gast in Talkshows, wie "Maybritt Illner". Dort wirbt er auch um Spenden für seine Projekte. Einmal habe ihm jemand nach einem Talkshow-Auftritt 10.000 Euro gespendet, erzählt er. Meurer ist ein Profi des Fundraising, wofür er vor einigen sogar einen Preis erhalten hat. Um seine vielfältigen Aktivitäten im Stadtteil zu finanzieren, ist er auf finanzstarke Spender angewiesen. Deshalb nimmt er in großer Regelmäßigkeit hohe Spenden von Unterstützern an. Darunter auch Berühmtheiten, wie der Intellektuelle und Schriftsteller Navid Kermani.
"Die Wahrheit ist symphonisch"
Wer Meurer zum ersten Mal sieht, erkennt sofort, dass er Priester ist, denn der Kölner Pfarrer trägt stets das Kollarhemd. "Die Leute wollen, dass man erkennbar ist", erklärt er. Seine Kleidung wirkt einfach und man erkennt bei näherem Hinsehen, dass sie abgetragen ist. Gern zitiert Meurer den Satz von Hans Urs von Balthasar: "Die Wahrheit ist symphonisch." Erst im Zusammenwirken mehrerer Kräfte in der Gemeinde, Haupt- und Nebenamtlichen, kommt die Botschaft des Evangeliums ans Licht. Für Meurer ist sie immer auch praktisch. So zitiert er etwa die spanische Heilige Teresa von Ávila, die Mystik immer auch als tätig verstanden hat.
Ein Projekt Meurers, in dem sich die Praxis des Glaubens zeigt, ist das HöVi-Land. Jedes Jahr in den Sommerferien verwandelt sich eine Grünfläche im Stadtteil Vingst in ein Kinderland. Für drei Wochen haben Kinder und Jugendliche aus Familien der beiden Stadtteile, die sich keinen Urlaub leisten können, die Möglichkeit vom Schulstress zu entspannen. Mit Freizeitangeboten und kreativen Workshops verbringen die die Kinder im HöVi-Land einen schönen Tag und kehren abends nach Hause zurück. Die Jugendlichen können sich als Leiter engagieren und somit erste Verantwortung sammeln. Für Meurer ist selbstverständlich, dass auch eine kleine Kapelle, der HöVi-Dom, zum Sommerferien-Angebot dazugehört. Der Pfarrer ist der Namensgeber der Freizeit und hat damit gleichzeitig einen einprägsamen Begriff für die beiden Stadtteile, Höhenberg und Vingst, erfunden: das HöVi-Land. Oder wie Meurer es etwas intellektuell ausdrückt: "Wir müssen den semantischen Kampf gewinnen."
Nie hat Meurer Zeit, immer ist er unterwegs, um Geld für seine sozialen Projekte einzuwerben. Das haben auch seine Gemeindemitglieder bemerkt. "Der Pfarrer ist immer in Action", sagen sie. Das ist auch nötig, denn das Klappern gehört für einen Macher wie Meurer zum Handwerk. Darin ist er ein richtiger Profi.
"Nix is esu schläch, dat et nit für jet jot es." – "Nichts ist so schlecht, dass es nicht für etwas gut ist." Mit diesem Motto geht Meurer seine Aufgaben als Pfarrer an. Egal welche Bildung, wie viel Geld oder welche Religion jemand hat, alle sind in seiner Gemeinde willkommen. Meurer fühlt sich darin der katholischen Soziallehre verpflichtet. Er nutzt seine Zeit aber auch, um Bücher zu schreiben, Vorträge zu halten und immer wieder um Geld einzuwerben.
Im Keller der Kirche wird Gutes getan
Doch Meurers Einsatz für größere soziale Gerechtigkeit hat auch gefährliche Seiten. 2008 wurde der Pfarrer des HöVi-Lands in seiner Wohnung überfallen. Ein Mann hatte sich an der Tür als Hilfsbedürftiger ausgegeben und überwältigte den Geistlichen mit Hilfe von zwei Komplizen. Der Armen-Pfarrer kam mit dem Schrecken und leichten Verletzungen davon. Als gefährlich bezeichnet Meurer hingegen die Religion an sich. Sie könne, in den falschen Händen, einen großen Schaden anrichten. Dabei setzt er selbst sich dafür ein, dass die Religion positiv wahrgenommen wird. Er fordert, nicht von der Religion zu reden, sondern aus dem Glauben heraus zu handeln. Also, wie es auch Papst Franziskus fordert, den Glauben zu verkünden, dies notfalls auch mit Worten.
Im Keller seiner Pfarrkirche St. Theodor hat er deshalb einen scheinbar unerschöpflichen Fundus von alten Kleidern, gebrauchten Fahrrädern und vielen weiteren Dingen des alltäglichen Gebrauchs angelegt. Meurer fungiert eher als Koordinator, die eigentliche Arbeit leisten die vielen Freiwilligen in der Fahrradwerkstatt, der Essensausgabe und der Kleiderkammer. Die verschiedenen Bereiche arbeiten selbstverantwortlich, Meurer will ihnen nicht hineinreden: "Wer es macht hat die Macht", sagt der Pfarrer selbst. Dennoch berichten die Ehrenamtlichen, dass er sich auch einmischen kann, wenn die Dinge nicht laufen, wie geplant. Da zeige sich dann sein kölsches Temperament.