Der letzte Weg
Dann äußern Betroffene – häufig vorschnell – den Wunsch nach "aktiver Sterbehilfe"; für sich selbst, für den Ehepartner oder die Eltern. Schließlich soll niemand leiden. Eine Umfrage im Auftrag der DAK-Gesundheit hat jetzt ergeben, dass rund 70 Prozent der Deutschen "aktive Sterbehilfe" befürworten. Die Ursachen für das Ergebnis sind vielschichtig: Ein falsches Verständnis der Begrifflichkeiten ist einer der Gründe. Denn die Mehrheit der Befragten fühlt sich "weniger gut" (41 Prozent) oder "überhaupt nicht gut" (16 Prozent) über die derzeit geltenden Regelungen bei der Sterbehilfe informiert. "Sehr gut" im Bilde sehen sich dagegen nur etwa acht Prozent.
Verschiedene Begriffe
Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), hat ebenfalls den Eindruck, dass die hohe Zahl der Befürworter mitunter auf einen falsches Verständnis der Definition zurückzuführen sei. "Viele Menschen glauben, dass beispielsweise das Abschalten einer Maschine – immerhin eine aktive Handlung –, eine Form 'aktiver Sterbehilfe' darstellt", sagt Melching. Statt die veralteten Begriffe "aktive", "passive" und "indirekte" Sterbehilfe zu verwenden, müsse man vom straffreien assistierten Suizid und der verbotenen Tötung auf Verlangen sprechen. Außerdem sei es schwierig, Menschen zu diesem Thema zu befragen, die mitten im Leben stehen. "Schwerstkranke wollen meist gar nicht von heute auf morgen sterben, da sie sich auf einmal neue Ziele wie die Taufe ihres Enkels stecken", so der Geschäftsführer.
Die katholische Kirche mahnt seit jeher an, dass weder der (assistierte) Suizid noch die "aktive Sterbehilfe" zu einem "würdevollen Tod" passen. Die christlich-theologische Begründung ist klar und weiterhin gültig: Das Leben ist ein Geschenk, über das weder am Anfang noch am Ende frei verfügt werden kann. So macht Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii Gaudium" erneut deutlich, "dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung".
Bischofskonferenz: Palliativmedizin ausbauen
Doch mit dem erhobenen Zeigefinger will die Kirche mehr, als allein den Wert des menschlichen Lebens zu unterstreichen. Nämlich eine Alternative aufzuzeigen, die in Politik und Gesellschaft noch immer zu kurz kommt. Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz sprach sich daher in Würzburg für den Ausbau von Palliativmedizin und Hospizversorgung aus. Und der Berliner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki schreibt in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung , dass es bei aller Empörung über die falsche Entscheidung in Belgien – hier wurde Mitte Februar die Sterbehilfe für Minderjährige erlaubt – auch erforderlich sei, "eine ausreichend finanzierte Schmerzmedizin in Deutschland sicherzustellen".
Diese Schmerz- oder besser Palliativmedizin definiert die Weltgesundheitsorganisation als einen Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität durch "Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, richtiges Einschätzen von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art."
Angst vor Schmerzen und Atemnot
Denn in den meisten Fällen stecke hinter der Befürwortung der "aktiven Sterbehilfe" gar nicht der Wunsch nicht mehr leben zu wollen, sondern die Angst vor Begleiterscheinungen und davor, einer hochtechnisierten Medizin ausgeliefert zu sein, ist sich DGP-Geschäftsführer Melching sicher. Eine Umfrage der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) stützt die These. Rund 78 Prozent der Befragten haben vor allem Angst vor belastenden Symptomen wie Schmerzen oder Atemnot. 57 Prozent sorgen sich auch darum, Menschen alleine zurücklassen zu müssen.
Deutschland ist auf dem Weg, diesen Sorgen entgegenzusteuern. Es gibt bereits über 1.700 ambulante Palliativ- und Hospizdienste und rund 200 stationäre Hospize. Allein die Zahl der Palliativstationen ist in den letzten zehn Jahren von rund 100 auf knapp 260 gestiegen. Dennoch: Laut der Deutschen Stiftung Patientenschutz hätten 2013 rund 522.000 Schwerstkranke in Deutschland eine palliative Versorgung benötigt. Tatsächlich erhielten aber nur 85.000 Sterbende eine solche Hilfe. 437.000 Menschen starben also ohne eine entsprechende Therapie.
Jeder Zweite will zu Hause sterben
"Aktuell haben wir in Deutschland knapp 20.000 Pflegekräfte und rund 8.000 Ärzte mit einer Zusatzqualifikation", sagt Melching. Neben einer Verdoppelung der Zahlen wünscht sich der Experte den Ausbau der vorhandenen Strukturen. Während die ambulante Versorgung in den großen Städten gut ist, gibt es gerade auf dem Land eine Unterversorgung. Dabei hat die ZQP-Studie ergeben, dass jeder zweite Bundesbürger (49 Prozent) am liebsten zu Hause sterben würde. "Hier brauchen wir eine bessere Vernetzung und müssen informieren und weiterbilden", so der Geschäftsführer. Ob bei Hausärzten und Pflegekräften, in der Familie oder unter Nachbarn, in der Seelsorge oder im Schulunterricht: Es sei ein Thema, das die Gesamtgesellschaft betreffe.
"Denn die Menschen werden älter und sterben häufig in einem späteren Stadium ihrer Erkrankung", begründet Melching seine Forderungen. Doch blickt der Experte positiv in die Zukunft. In der Aus- und Weiterbildung sei man auf einem guten Weg. Junge Medizinstudenten würden bereits anders geschult und zeigten eine veränderte Haltung zur Palliativmedizin, auch wenn es bisher deutschlandweit nur zehn Lehrstühle für den Fachbereich gebe. Auch die meisten Hospize seien personell bereits relativ breit aufgestellt, obwohl sie noch immer mit der diffusen Angst vor dem Tod und dem Unbekannten zu kämpfen hätten, so der DGP-Geschäftsführer. Laut ZQP-Umfrage sind es "nur" 27 Prozent, die dort – trotz guter Versorgung – sterben möchten.
Einfach da sein
Natürlich werde der personelle Aufwand in Zukunft größer, sagt Melching. Doch könne im medizinischen Bereich – etwa bei unnötigen Therapien oder Diagnosen – gespart werden. Auch in den Alten- und Pflegeheimen müsse die palliative Versorgung angepasst werden. "Da muss dann über die Finanzierung nachgedacht werden", so der DGP-Geschäftsführer. Denn bisher werden die Heime nur aus der Pflegekasse, Hospize aber zudem noch aus der Krankenkasse mitfinanziert.
Ein weiteres Konzept bezieht laut Heiner Melching das bürgerliche Engagement mit ein. 80.000 Ehrenamtliche gibt es bereits. Sie können sich bei jedem Hospizverein in Deutschland fortbilden. Ihre Hauptaufgabe: die Schwerstkranken und ihre Angehörigen zu entlasten. Das sei durch Gespräche oder auch durch kleine Einkäufe möglich. "Viele unterschätzen die Bedeutung, wenn man einfach da ist." Dabei sei Zeit etwas so kostbares.