Die Ästhetik von Abgründen

Veröffentlicht am 22.12.2012 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 4 MINUTEN
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Ballett

Mainz ‐ Die Hölle - immer wieder fasziniert und inspiriert sie Künstler, sich mit ihr in Wort und Bild auseinanderzusetzen. Zu welcher Kraft und Ausdrucksmöglichkeit der Tanz, der Körper, finden kann, zeigte in beeindruckender Art und Weise die Uraufführung von "Inferno" am Mainzer Staatstheater. Choreografiert von Ballettdirektor Pascal Touzeau entwickelt das Ensemble eine Sprache, die den Abgründen, den dunklen Mächten, große Ästhetik verleiht.

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Touzeau, seit der Spielzeit 2009/2010 Direktor und Chefchoreograf von Ballett Mainz, zeigte zuletzt in einer aufwendigen Produktion Pjotr Iljitsch Tschaikowskis "Schwanensee". Er gestaltet den 90-minütigen Ballettabend in zwei Teilen: Der erste Teil erzählt die Erschaffung Adams, angeregt von der in der Bibel erzählten Genesis und den Schöpfungs-Bildern im Koran. Das Paradies ist bei Touzeau ein reduzierter Bühnenraum. Zwei kahle Bäume, die sich in verschiedenen Lichtstimmungen, zunächst im Halbdunkel abzeichnen. Die Zuschauer begeben sich bereits beim Einlass in ein Szenario. Mit dem "Miserere", einem Chorwerk des im Jahr 2010 verstorbenen polnischen Komponisten Henryk Górecki, finden sie sich in einem Raum wieder, der von einer traurig-dunklen Atmosphäre aufgeladen ist. Die Stimmen des Chores drücken ein eindringliches Flehen aus, das in einem Crescendo anwächst, dann wieder abebbt. "Miserere" geht in das von Sofia Gubaidulina im Jahr 1990 komponierte "Alleluia" für Chor, Orgel und Orchester über. Das Stück ist geprägt von Passagen aus Rezitation, lautem Gellen und leisem Wispern.

Intensiv, nah und unmittelbar

Intensiv, nah und unmittelbar ist das Publikum in das Geschehen eingebunden. Denn Bühne und Zuschauerraum gehen ineinander über, verschmelzen miteinander. Dafür wurde der Zuschauerraum als Arena gestaltet und zum Teil mit Bühnenelementen überbaut. Rhythmisiert durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit der einzelnen Tage, tanzt das Ensemble die Schöpfung bis hin zur Erschaffung Adams. Schemenhaft, teilweise nur im Gegenlicht als Silhouette, dann in jedem Gesichtszug erkennbar, erschafft die Choreografie mystisch anmutende Bilder. Gott tritt auf. In weit ausgestelltem, dunkelgrauem Kleid verkörpert von Anne Jung. Großartig in ihrer ausdrucksstarken Tanzsprache, die von der Mimik bis in die Fingerspitzen ein Wesen ausstrahlt, das menschlichen Zügen fern zu sein scheint. Erschöpft von ihrem Wirken und Werk muten die Bewegungen der Figur an, als versinke sie immer wieder in sich selbst.

Die Erschaffung Adams
Bild: ©Staatstheater Mainz

Die Erschaffung Adams

Adam wird von fünf Tänzern des Mainzer Ensembles getanzt. Inspiriert von den unterschiedlichen Materialien, aus denen der erste Mensch in den verschiedenen Schöpfungsberichten in Bibel und Koran erschaffen wurde. Jeder der Tänzer gestaltet einen Absatz der Genesis, wobei sich die Verkörperungen Adams, die einzelnen Geschichten im Tanz miteinander verbinden. So entstehen Pas de deux, Trios und Quartette. Die einzelnen Bewegungen der Tänzer formen eine neue gemeinsame Bewegung. Begleitet wird das Geschehen vom ersten Takt bis zum Sündenfall Adam und Evas (getanzt von Cristina Ayllón Panavera) von einem Sprecher (Florian Gierlichs). Mit dem gesamten Spektrum seiner Stimme interpretiert Gierlichs den Text, wechselt in verschiedene Tonlagen, aufbrausend, flüsternd, zischend.

Losgelöst von Zeit und Raum

In klarer Opposition zum ersten Teil, verbunden über den Sündenfall, ist der zweite Teil des Ballettabends gestaltet. Er erzählt weniger eine Geschichte, eine Handlung, sondern verdichtet sich zu einem sphärischen Eindruck, der sich losgelöst von Zeit und Raum entfaltet. Ausgehend von Dantes "Göttlicher Komödie" entwickelt Touzeau seine Choreografie der Hölle, erschafft berührende Bilder zu den Klängen der "Miserere" und einem Werk des US-amerikanischen Komponisten John Luther Adams ("The Immeasurable Space of Tones"). Die Bäume des Paradieses. In der Hölle hängen sie umgedreht von der Bühnendecke mit ihren kargen und leblos wirkenden Ästen herab.

Die Herrscherin der Dunkelheit, die Figur der Hölle bewegt sich majestätisch und bedrohlich durch den Raum, eindringlich verkörpert von Takako Nishi. Langsam, aber unaufhaltsam nähert sie sich den Tänzern in ihren dunklen, in Violett-Tönen gehaltenen Kostümen, umkreist und umschlingt sie. Die Tänzer finden in verschiedenen Konstellationen zueinander. Sie trennen sich, sinken zu Boden und recken die Arme nach oben, die Blicke gen Decke gerichtet. Körper ineinander verschlungen, dann auseinandergerissen. Sie sind Schattenmenschen mit den Schrecken spiegelnden und doch befremdlich leeren Gesichtsausdrücken. Szenen reihen sich aneinander und lösen sich in der folgenden auf. Die Bewegungen im Tanz fließen. Sie scheinen weder Anfang noch Ende zu kennen. In dieser beinahe meditativen Stimmung liegt, obgleich der Dunkelheit der Hölle bewusst, ein erleichternder Trost. Touzeau erschafft mit seinem Ensemble eine dunkle Ästhetik, die Raum für Interpretation als Spiegel innerer Bilder zulässt. Sie entfaltet eine Anziehungskraft, derer man sich kaum zu entziehen vermag. Fabelhaft.

Von Vanessa Renner

Weitere Aufführungen

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