Die Helfer von Gleis 1
Dabei kann in der Kölner Mission schon lange niemand mehr übernachten: "Wir haben von 7 bis 19 Uhr geöffnet. Da nehmen wir uns allerlei Problemen an - aber in der Nacht, da geht nichts."
Corinna Rindle sitzt in einem hellen Raum an Gleis 1, Abschnitt E - ein Stück abseits des Trubels der 250.000 Menschen, die jeden Tag durch den Kölner Hauptbahnhof wuseln. In den Räumen, die kostenlos von der Deutschen Bahn an die beiden kirchlichen Träger "Diakonie" und "In via" vermietet werden, ist es ruhig. Mit geschlossenen Augen sitzt eine Dame mittleren Alters in der Ecke, rührt in ihrem Tee und reckt ihre Nase in die Sonne, die durch das Fenster scheint. Sie möchte Wartezeit überbrücken und hat sich für eine Tasse Kaffee niedergelassen. Derweil öffnet ein etwas mitgenommener junger Mann die Tür, kratzt ein paar Münzen zusammen und wirft sie Stück für Stück in ein Sparschwein für Spenden. Er nimmt sich eine Tasse Tee, setzt sich und beginnt ein Gespräch. Sonst sitze er um diese Zeit in einem Treffpunkt für Obdachlose, doch der Treffpunkt sei an diesem Tag geschlossen. Obdachlose und Junkies verweilen mit Familien und Rentnern an einem Ort: "Das ist der Spagat, den wir jeden Tag versuchen", erklärt Rindle, "wir wollen die Türe wirklich für alle offen halten und trotzdem alle ansprechen."
Dies klingt im ersten Moment nicht nach einem Widerspruch. Einige Menschen fühlen sich jedoch von Obdachlosen abgestoßen. Daher ist den Missionaren zwar daran gelegen, wirklich allen zu helfen, den Besuch der Bahnhofsmission jedoch nicht zur Gewohnheit werden zu lassen: "Wir wollen kein tagesstrukturierendes Angebot sein – deswegen arbeiten wir mit vielen Einrichtungen im Umfeld des Hauptbahnhofs zusammen", so Rindle. "Wir können nicht alles und wissen nicht alles - und wenn jemand ein wirkliches Problem hat, müssen wir ihn an die Fachstellen verweisen." Dann macht sie eine kurze Pause und lächelt: "Aber oft wollen die Menschen hauptsächlich mit jemandem sprechen. Dafür haben wir freilich ein offenes Ohr."
Gefahren der Großstädte
Zwei Festangestellte und 40 Ehrenamtler betreiben die Kölner Bahnhofsmission. Deutschlandweit arbeiten mehr als 2.000 Mitarbeiter in 103 Orten - überwiegend in Großstädten. Der Grund dafür liegt in den Anfängen der Bahnhofsmissionen: Im Zuge der Industrialisierung zogen immer mehr junge Frauen vom Land in die Städte und trafen dort häufig auf Menschenhändler und Ausbeuter. Die evangelische Kirche eröffnete 1884 die erste Bahnhofsmission in Berlin, um die Zuzügler vor den Gefahren der Großstadt zu bewahren. Die erste ökumenische Mission eröffnete drei Jahre später in München. Die Bahnhofsmissionen übernahmen immer mehr Aufgaben: Während des Ersten Weltkriegs, als Deutschland als Transitland für den internationalen Frauenhandel ausfiel, kümmerten sich die Bahnhofsmissionare um Frontarbeiter und Frauen, die das Militär in die städtischen Munitionsfabriken abkommandiert hatte, später auch um Landstreicher und arbeitslose Jugendliche. Die Nazis haben nach ihrer Machtergreifung konfessionelle Vereine gegängelt und schließlich verboten. Doch schon wenige Wochen nach dem Zweiten Weltkrieg öffneten die ersten Missionen wieder - oft provisorisch in ausrangierten Bahnwaggons.
Von einem Provisorium kann bei der Kölner Bahnhofmission keine Rede sein: Vor zwei Jahren wurden die Räume renoviert. Im Nebenzimmer können Kinder, nachdem sie im Zug stundenlang stillsitzen mussten, ihrem Spieltrieb freien Lauf lassen: In der Ecke steht eine Ritterburg, auf dem Boden ist ein Verkehrsteppich ausgelegt, und an der Wand hängt sogar ein Basketballkorb. Noch einen Raum weiter steht ein Wickeltisch, ein überdimensionales "Vier-Gewinnt" und ein großzügiger Sitzsack: "Der ist für Mütter, die sich mal zurückziehen wollen - beispielsweise zum Stillen", so Rindle. Sie blättert in ihrem schlauen Büchlein. Dort stehen Termine und Abfahrtzeiten. Barbara Lemke hat sich für 16 Uhr angekündigt. Die warme Frühlingssonne kann sie fühlen, sehen kann sie sie nicht. Auch wenn ihr Hund den Weg von der U-Bahn-Station zu Gleis 9 kennt, nimmt sie den Service der Mission gerne in Anspruch: "Wenn die Züge plötzlich auf einem anderen Gleis einfahren, ist es schon eine große Hilfe, wenn ich mich nicht allein zurechtfinden muss." Auch älteren Menschen oder Kindern, die allein reisen, kann auf diese Weise geholfen werden.
Kurze Wege, lange Leitungen
Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn funktioniere einwandfrei, meint Rindle: "Wir profitieren ja voneinander." Und im Hauptbahnhof sitzen Rindle und ihre Mitarbeiter zudem am Puls der Zeit: "Man bekommt viel mit. Bereits vor Monaten strandeten immer mehr Menschen aus Bulgarien und Rumänien bei uns. Es war absehbar, dass sich daraus ein Problem entwickeln würde." Die Wege zur Politik seien kurz, doch die Leitung der Politiker manchmal zu lang: "Wir haben das an die betreffenden Stellen weitergegeben; gekümmert hat sich keiner. Und jetzt haben wir die Diskussion ."
Die Elendsmigration sei belastend, so Rindle: "Wenn ein Mensch vor dir steht, mit nichts, als die Sachen, die er am Leib trägt - kein Geld, kein Job, kein gar nichts -, dann musst du schon mal durchatmen." Und improvisieren, denn das internationale Publikum am Kölner Hauptbahnhof spricht nicht immer Englisch, Deutsch schon gar nicht: "Zur Not müssen wir Übersetzer zu Rate ziehen." Dann erzählt sie von einem chinesischen Klienten, der verzweifelt nach Hilfe suchte. Ihr Kollege telefonierte daraufhin mit einem Asia-Imbiss, um kurzfristig einen 'Dolmetscher' zu organisieren. Trotz allen Engagements, die Welt kann und möchte Rindle nicht retten: "Aber es steht uns gut zu Gesicht, wenn wir mehr auf die Menschen achten, die unsere Hilfe benötigen."
Die Frage ist jedoch: Wie viel Mission steckt heutzutage noch in der Mission? Rindle überlegt kurz: "Wenn ich Mission so verstehe, Menschen ein Angebot zu machen, sie an die Hand zu nehmen, ihnen Unterstützung zu geben, dann ist noch ganz viel Mission drin. Wenn man Mission – und das wird oft verwechselt – als Bekehren steht, dann nichts mehr."
Von Michael Richmann