Marina Lessig und die Flüchtlingsarbeit am Münchener Hauptbahnhof

Die Möglichmacherin

Veröffentlicht am 31.08.2016 um 16:20 Uhr – Von Gudrun Lux – Lesedauer: 
Flüchtlinge

München ‐ Zehntausende Flüchtlinge kamen vor einem Jahr am Münchner Hauptbahnhof an. Die Bilder aus Bayerns Landeshauptstadt gingen um die Welt. Marina Lessig koordinierte damals die Hilfe der Freiwilligen.

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Drei Wochen im Herbst 2015: Um die 100.000 Flüchtlinge kommen am Münchner Hauptbahnhof an, andere sprechen gar von 135.000. Unzählige Menschen wollen helfen. Sie bringen Wasser, Kleidung, Windeln. Auch Marina Lessig, damals 26 Jahre alt, fährt zum Bahnhof. Es ist so voll, dass sie gar nicht mehr reingelassen wird. Schnell stellt sie fest: Hier ist viel guter Wille – und viel Durcheinander.

Lessig ist so eine, die da, wo sie gebraucht wird, bereitsteht und unkompliziert anpackt. Sie weiß, was sie kann: gut organisieren und strukturieren. Sie ist, sagt sie, eine "Möglichmacherin": Wenn viele Menschen helfen wollen, dann muss man ihnen möglich machen zu helfen – Wege finden, das Engagement in Bahnen zu lenken. Lessig ist im Vorstand des Kreisjugendrings; die meisten Vorstandkollegen sind in Urlaub, in Bayern sind noch Sommerferien. Doch Lessig ist da. Und: Schon seit einigen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit der Flüchtlingshilfe, sie bildet etwa Multiplikatoren aus, die Workshops zu Flucht und Vertreibung in Schulen leiten.

Sie moderierte Gespräche mit Holocaust-Überlebenden

Lessig ist in Dachau aufgewachsen, pendelte als Jugendliche ins Mädchengymnasium der Armen Schulschwestern im Herzen Münchens. Als 15-Jährige begann sie, Gespräche mit Zeitzeugen zu moderieren, die Jugendlichen vom Nationalsozialismus, dem Holocaust, dem Leben in Konzentrationslagern erzählten. Die Begegnung mit den Menschen, die das mörderische Regime überlebt hatten, bewegte sie. Dass sie begann, sich für demokratische Bildung zu interessieren, war die für sie logische Folge. Sie wurde Vorsitzende im Münchner Schülerbüro, später an der Münchner Jesuitenhochschule wurde sie bereits nach einem Semester in die Studierendenvertretung gewählt, außerdem engagiert sie sich bei den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), ist dort mittlerweile im Bundesvorstand.

Bild: ©Leo Simon

Mehr als 100.000 Flüchtlinge kamen im vergangenen Herbst am Münchner Hauptbahnhof an.

Schnell wird die junge Frau zu einer zentralen Figur für die Helferinnen und Helfer am Hauptbahnhof, vertritt die Freiwilligen im Krisenstab der Regierung von Oberbayern, sorgt dafür, dass Notwendiges auf Kosten des Kreisjugendrings gekauft werden kann und kümmert sich darum, dass erschöpfte Freiwillige heimgeschickt werden. Sie kauft Handys, damit die Koordinatoren am Hauptbahnhof und in den Notunterkünften immer unter der gleichen Nummer erreichbar sind, zum Beispiel für die Polizei oder die Landeshauptstadt. Sie erstellt Schichtpläne, ab dann dürfen Freiwillige nur noch vier Stunden arbeiten. "Es gab einige, die konnten einfach nicht mehr, die waren körperlich und seelisch erschöpft", erzählt sie. So manchen ließen die Bilder der Flüchtlinge nicht los, die Verzweiflung, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit, die vielen Ankommenden im Gesicht stand, die Kinder, die keine Schuhe hatten und keine Jacken und ins gar nicht mehr sommerliche München kamen.

"Es war nicht der Zeitpunkt, wo man persönliche Beziehungen zu den geflüchteten Menschen aufnehmen konnte. Das haben wir den Ehrenamtlichen gesagt und versucht, sie zu schützen. Einige wenige Helfer haben es trotzdem versucht, das ist jedoch eigentlich immer schiefgegangen, bis hin zum Burn Out", erzählt sie. Wohl jeder Freiwillige habe ein, zwei Begegnungen gehabt, die ihn nicht mehr losließen. Doch was aus den Menschen geworden sei, das wissen sie nicht. So wie die beiden Kinder, die nachts bei einem Fast-Food-Restaurant gefunden wurden, zehn und elf Jahre alt. Lessig fuhr noch nach ihrer ehrenamtlichen Schicht hin, um sie abzuholen. "Diese Kinder waren ganz alleine aus dem Irak bis nach Deutschland gelangt – und haben mehr durchgemacht, als ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben ertragen muss" – es dauerte Stunden, bis sie die Kinder überzeugen konnte, mit einem anderen Helfer in eine betreute Unterkunft zu fahren.

Linktipp: "Bischweija" heißt langsam

Unzählige Freiwillige helfen in ganz München, Flüchtlinge willkommen zu heißen und mit dem Nötigsten zu versorgen. Unsere Autorin hat am Hauptbahnhof mit angepackt. Dort hatte sie eine ganz besondere Begegnung mit einem kleinen, willensstarken Jungen. (Artikel von September 2015)

Es war spätnachts, als Lessig die Verantwortung für die beiden abgeben konnte. Sie war müde, nicht nur körperlich, und überanstrengt, hielt ein Taxi an. Der Taxifahrer fragte freundlich, wo sie herkomme und sie begann zu erzählen, von ihrem Abend am Hauptbahnhof, ihrer nächtlichen Begegnung mit den Kindern. Und als der Taxifahrer vor ihrer Haustür stoppte, sagte er, dass er nicht ehrenamtlich am Hauptbahnhof helfen könne, denn dann komme er nicht über die Runden. "Die Fahrt geht aber auf mich", sagt er bestimmt.

Nicht jeder kann sich intensiv ehrenamtlich engagieren

Lessig hat volles Verständnis, dass nicht jeder so zeitaufwändig und intensiv ehrenamtlich tätig sein kann wie sie selbst. "Es muss keiner ein schlechtes Gewissen haben, wenn er das nicht leisten kann", sagt sie und erzählt gleich darauf weiter begeistert von der Unterstützung, die sie bekommt – und ohne die sie es selbst nicht schaffen würde. "Es sind ja nicht nur die Ehrenamtlichen, die tatsächlich mit Flüchtlingen arbeiten, sondern so viele Menschen, die hinter diesen Ehrenamtlichen stehen", sagt Lessig. Der Taxifahrer ist nur ein Beispiel dafür. Es sind die WG-Mitbewohner, die den Putzdienst übernehmen oder die Kollegin, die am Freitagnachmittag zwei Stunden vor Dienstschluss sagt: "Geh ruhig schon, ich schaff den Rest auch allein."

Heinrich Bedford-Strohm und Reinhard Marx schütteln Flüchtlingen die Hände
Bild: ©KNA

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, und Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz begrüßen ankommende Flüchtlinge auf dem Bahnhof in München.

Marina Lessig zieht ein Resümee: "Ich habe die Menschen gesehen, denen wir geholfen haben – und denen ging es wirklich schlecht. Ich kann ruhigen Gewissens sagen: Ich habe getan, was ich tun konnte und habe das gerne gemacht. Ich habe einfach den Platz angenommen, der sich da für mich gefunden hat." Lessig, die Möglichmacherin, schafft es, dass unzählige Menschen wirksam helfen können. Für sie ist das ein Akt christlicher Nächstenliebe. Dass Münchens Kardinal Reinhard Marx und der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm gemeinsam zum Hauptbahnhof kamen, war ein Motivationsschub für sie und für viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, "die aus christlicher Überzeugung vor Ort waren und die gesehen haben: Mein Bischof kommt und zeigt, dass das, was wir hier machen wichtig und richtig ist".

Anerkennende Worte aus der ganzen Welt

Aus der ganzen Welt kamen anerkennende Worte für die Freiwilligen am Münchner Hauptbahnhof. "Mit jeder Wasserflasche, die wir da jemandem gegeben haben, haben wir etwas bewegt, das vielleicht auch andere Menschen bewegt hat zu helfen, etwas zu tun oder zumindest sich dafür zu interessieren, was da passiert in der Welt", ist Lessig überzeugt. Und sie ärgert sich, wenn heute berichtet wird, dass immer weniger Menschen ehrenamtlich helfen wollten. "Das stimmt einfach nicht“, schimpft sie. Es gebe unzählige Leute, die auf so vielen Wegen helfen. Lessig will unkomplizierte, auch niederschwellige Hilfe ermöglichen. Gerade arbeitet sie an einem Konzept von Spielplatzpatenschaften. "Junge Eltern verbringen so viel Zeit auf Spielplätzen – warum sollten wir diese Zeit nicht zur Integration nutzen? Da kann man super geflüchtete Eltern und Kinder kennenlernen und die Unterstützung in den eigenen Alltag einbauen", schlägt sie vor.

Das Engagement für Flüchtlinge in München geht also weiter. Für Marina Lessig ehrenamtlich im Stadtjugendring und im Verein "Münchner Freiwillige – Wir helfen", dessen Vorsitzende sie ist. Gegründet wurde er aus den Reihen der Helfer von damals. "Es wäre komisch gewesen, nach diesen drei intensiven Wochen, diejenigen, mit denen wir da zusammengearbeitet haben, nie wieder zu sehen", findet Lessig. Zum anderen aber ist Marina auch beruflich angekommen in der Rolle, die sie im Herbst 2015 so selbstverständlich übernommen hat. Nach ein paar Wochen Pause ("Ich brauchte einfach Zeit um alles zu verarbeiten“) begann sie Anfang dieses Jahres, für die Caritas zu arbeiten. Als Ehrenamtskoordinatorin.

Von Gudrun Lux