Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach über die Integration von Flüchtlingen

Die Stadt braucht den Wandel

Veröffentlicht am 25.07.2016 um 00:01 Uhr – Von Tim Kurzbach – Lesedauer: 
Debatte: Flüchtlingskrise

Solingen ‐ Solingen hat eine engagierte Bürgerschaft – und wenig Geld. Und steht wie so viele Kommunen vor der Herausforderung, Flüchtlinge zu integrieren. Oberbürgermeister Tim Kurzbach skizziert, wie das gelingt.

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Eins möchte ich vorausschicken: Ich halte es nach wie vor für richtig, dass die Bundesregierung im letzten Sommer die Grenzen für hunderttausende verzweifelter Menschen geöffnet hat, die sich vor Krieg und Verfolgung nach Europa retten wollten. Rund 2.700 Geflüchtete hat Solingen bisher aufgenommen und ich stehe zu meiner Pflicht als Oberbürgermeister und als Christ, diesen Männern, Frauen und Kindern ein menschenwürdiges Leben und für viele von ihnen auch eine Zukunft in der Klingenstadt zu ermöglichen.

Tim Kurzbach, Oberbürgermeister von Solingen
Bild: ©Stadt Solingen

Tim Kurzbach (SPD) ist seit 2015 Oberbürgermeister von Solingen. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Diözesanrates im Erzbistum Köln.

Ich bin der Auffassung, dass die Mehrzahl der europäischen Staaten heute ein beschämendes Bild abgibt. Und ich habe die Angst, das Projekt Europa könnte scheitern, wenn es sich in der Stunde der Gefahr doch nur als eine Art Zollverein für bessere Tage präsentiert und die gemeinsamen Werte: Menschenrechte, Freiheit, Freizügigkeit, zur Disposition stellt. Die Erschütterungen des Nahen Ostens erschüttern auch Europa. Wir erleben eine globale Krise, der sich kein Europäer entziehen kann.

"Wir schaffen das" reicht nicht

Und dennoch: Wenn die Kanzlerin ein lapidares "Wir schaffen das." als Antwort auf die Herausforderung der Zuwanderung formuliert, macht sie es sich zu einfach. Es ist eigentlich auch mehr ein Versprechen, das in der Realität einzulösen nicht Sache der Regierung ist, sondern Aufgabe der Städte und Gemeinden in unserem Land. Hier wäre erheblich mehr Engagement der Bundesregierung möglich und notwendig – vor allem finanzielles Engagement - als es die Kommunen bisher erfahren haben.

Für 2016 gehen wir in Solingen davon aus, dass unsere Kosten von 33,5 Millionen Euro nur zur Hälfte erstattet werden. Für 2017 will das Land nachbessern, die Kostenerstattung soll auf über 80 Prozent steigen. Damit würden aber immer noch zweistellige Millionenbeiträge fehlen. Deshalb geht mein Appell an die Bundesregierung: Schlachten Sie ihre heilige Kuh, die "Schwarze Null" und stellen Sie den Ländern und Kommunen deutlich mehr Geld für Flüchtlinge zur Verfügung. Wird jetzt nicht in Integration investiert, wird es später teurer! Der Bund hat es in der Hand, ob wir es auf Dauer tatsächlich schaffen!

Alle sind gefordert

Für die Solinger Verwaltung ist die Bewältigung der Flüchtlingskrise seit über einem Jahr das vordringliche Thema. Es handelt sich um eine Querschnittsaufgabe, die alle fordert: von der Sozialverwaltung über den Hochbau bis zur Schul- und Stadtent­wicklungsplanung und die allen Beteiligten viel Einsatz und Kreativität abverlangt.

Aus der ersten Krisenphase – ein Dach über dem Kopf, die warme Mahlzeit, die erste ärztliche Inaugenscheinnahme - sind die Städte inzwischen heraus; der Rückgang der Zuweisungen seit Jahresanfang hat entlastend gewirkt. Rückblickend können wir sagen: Die Akutphase, nachdem die Massenflucht in den deutschen Städten aufgeschlagen war, hat Solingen ganz gut in den Griff bekommen – nicht zuletzt dank der hervorragenden Kooperation mit den Trägern der sozialen Arbeit und den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer – insbesondere der christlichen Kirchen. Alleine hätten wir es als Stadtverwaltung nicht geschafft.

Dossier: So schaffen wir das - Die Debatte zur Flüchtlingskrise

"Wir schaffen das" ist zum geflügelten Ausspruch in der Flüchtlingskrise geworden. Doch wie kann eine realistische Willkommens- und Integrationspolitik künftig aussehen? Darüber lässt katholisch.de in einer Serie Experten aus unterschiedlichen Bereichen diskutieren.

Priorität hatte in den vergangenen Monate die Anmietung privater Wohnungen: inzwischen leben rund 900 Geflüchtete in rund 370 Wohnungen im Stadtgebiet verteilt. Alle Turnhallen, die wir zur Unterbringung von Menschen belegen mussten, hat die Stadt an die Schulen und Sportvereine zurückgegeben. Für weitere Entlastung werden mehrere Fertighäuser für je bis zu hundert Menschen sorgen, die im Sommer in verschiedenen Stadtteilen fertiggestellt werden. Mittelfristig ist es aber unsere Aufgabe, den sozialen Wohnungsbau in Solingen anzukurbeln – nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind. Das Programm dazu ist in Arbeit. Die in Aussicht gestellten Fördermittel des Landes sind allerdings schon überzeichnet, das Investoreninteresse ist da. Die Aufstockung der Mittel wäre geboten.

Hilfsbereitschaft, Offenheit und Engagement

Auch deshalb, weil die Flüchtlingszuwanderung einen Trend in unserer Stadt verstärkt, der sich seit zwei Jahren bemerkbar macht: Entgegen den Prognosen wächst die Solinger Bevölkerung. Menschen ziehen zu, es werden auch wieder mehr Kinder geboren. Derzeit leben 4.157 Kinder zwischen 3 und 6 Jahren in der Klingenstadt, im Jahr 2025 werden es über vierhundert mehr sein. Schon für das nächste Kindergartenjahr werden 19 zusätzliche Gruppen benötigt. Bis 2025 werden es 53 Gruppen in elf neuen Einrichtungen sein. Der Bau von drei neuen Kitas mit zwölf Gruppen wurde bereits im letzten Jahr beschlossen. Natürlich setzt sich die Entwicklung in den Schulen fort: Nicht ausgeschlossen, dass wir in Zukunft auch wieder neue Schulen bauen. Wenn wir in die Zukunft unserer Stadt investieren wollen, müssen wir in Kindergärten und Schulen investieren. Aber ohne die Hilfe von Bund und Land wird es unsere strukturell verschuldete Stadt sicherlich nicht schaffen.

Käme es nur auf die Solingerinnen und Solinger an, gäbe es kein Problem: Die Hilfsbereitschaft, Offenheit und das Engagement der Solinger Zivilgesellschaft, das mit dem Eintreffen der ersten Flüchtlingsbusse vor dem Solinger Stadttheater da war und das bis heute nicht nachgelassen hat, hat mich mit großem Stolz auf "meine Stadt" erfüllt. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich in Solingen engagieren und hilfreich bei der Integration von Geflüchteten mitwirken. Was würden wir tun ohne sie?

So wird auf ehrenamtlicher Basis Deutschunterricht für Geflüchtete erteilt, die die rechtlichen Voraussetzungen für die Teilnahme an (vom Bundesamt geförderten) Integrationskursen noch nicht erfüllen, weil ihr Asylantrag noch läuft. Fast dreihundert mehrsprachige Unterstützer haben sich beim Kommunalen Integrationszentrum gemeldet, um mit ihren Sprachkenntnissen Brücken zu bauen.

So arbeiten ehrenamtliche und hauptamtliche Helfer an viele Stellen sehr gut zusammen und gestalten auf diese Weise das "Willkommen" und die praktische Unterstützungen für die "Neu-Solinger" mit. Sportvereine, Kirchengemeinden, Moscheevereine tragen das ihre dazu bei, unserer Stadt ein freundliches, menschliches Gesicht zu geben. Auch die Solinger Schulen leisten wertvolle Arbeit.

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Video: © katholisch.de

Integration im Rhythmus: An der Hauptschule Herbertskaul bei Köln trommeln sich junge Geflüchtete in ihr neues Leben. Die Musik-AG soll Spaß machen, hat aber auch einen großen pädagogischen Nutzen.

Es gibt eine zentrale Anlaufstelle, das Beratungs- und Orientierungszentrum "Fluchtpunkt", unter dessen Dach die Träger AWO, Caritas und Diakonisches Werk ihre Angebote und Projekte der sozialen Beratung und Betreuung für Flüchtlinge zentral bündeln, eine weitere Anlaufstelle wird in den kommenden Wochen eröffnet. 

Schwächen und Sollbruchstellen der Europäischen Union

Was das staatliche Handeln und das Verwaltungshandeln angeht, ist das Bild differenzierter: Auf der großen Bühne macht die Flüchtlingskrise, wie eingangs beschrieben, die Schwächen und Sollbruchstellen der Europäischen Union sichtbar; und im Kleinen gilt das auch für das "System Kommunalverwaltung". Der Zwang zur Veränderung ist unabweisbar. Bei allem, was die Verwaltung mit großem Einsatz der Beteiligten an Nothilfe auf die Beine gestellt hat: Das System kann und muss effizienter werden.

Die Verwaltungsarbeit muss mehr an Ergebnissen und am Erfolg im Sinne der Menschen interessiert sein als an bürokratischen Regelwerken. Wir brauchen eine andere Verwaltungskultur. Das war schon so, bevor die Fluchtwellen einsetzten, es wird aber jetzt offensichtlicher. Es kann doch eigentlich nicht sein, dass der Wechsel eines anerkannten geflüchteten Asylbewerbers aus der Betreuung durch das Sozialamt (Sozialgesetzbuch XII) in die Verantwortung des Jobcenters (Sozialgesetzbuch II) sich so kompliziert gestaltet wie der Wechsel aus einer Welt in eine andere. Mehr Denken und Kommunizieren über Abteilungsgrenzen hinweg ist gefragt.

Das Problem ist immerhin erkannt: Den anfänglich wöchentlich tagenden Sonderkrisenstab hat die Stadt wieder aufgelöst. Wir haben stattdessen die Position eines Flüchtlingskoordinators geschaffen, mit übergreifenden Kompetenzen unmittelbar unter dem Oberbürgermeister.

Eine seiner ersten Aufgaben war, ein "WillkommensCenter" aufzubauen, das die Bestandteile des Sozialamtes, des Jobcenters und der Ausländerbehörde integriert, die allesamt Verwaltungsleistungen für Geflüchtete erbringen. So müssen diese nicht mehr von Standort zu Standort reisen. Auch den beteiligten Verwaltungsstellen profitieren von kurzen Wegen für eine bessere Abstimmung und Klärung offener Fragen. Hier wird auch der "Integration Point" angesiedelt, eine gemeinsame Einrichtung von Jobcenter und Bundesagentur für Arbeit. Seine Aufgabe ist, qualifizierte Geflüchtete besser in Arbeit zu vermitteln. Der Anfang ist gemacht, Arbeit trägt zur Integration und zur Würde bei wie kaum ein anderer Faktor – leider verhindern die Gesetze des Bundes auch hier vieles.

Ernst machen mit der Integration

Vor allem gilt es jetzt, mit der tatsächlichen Integration der Geflüchteten ernst zu machen: Dazu gehören die großen Themen Wohnen und Selbstversorgung, Sprachkurse, Kindergarten, Schule und Freizeit. Die große Aufgabe besteht darin, die Menschen zu befähigen, ihr Leben auf Dauer selbst in die Hand zu nehmen. Dafür benötigt die Stadt aber unbedingt weiter die Hilfe der Zivilgesellschaft.

Die Stadt braucht den Wandel. Mit Hilfe der Bürgerschaft wird es gelingen. Wir können die Dynamik der Krise dazu nutzen, die Verwaltung auf einen neuen, modernen Kurs im Dienste der Bürgerinnen und Bürgern zu bringen. Wir brauchen an allen Stellen Veränderung: Neues Denken, um dem Wandel um uns herum begegnen zu können.

„Die Stadt braucht den Wandel. Mit Hilfe der Bürgerschaft wird es gelingen.“

—  Zitat: Oberbürgermeister Tim Kurzbach

Ich fühle mich als Oberbürgermeister für alle verantwortlich, die bei uns eine neue Heimat suchen und ich setze meine ganze Kraft dafür ein, dass ihre Integration in unsere Gesellschaft gelingt. Solingen ist schon seit langem vielfältig und bunt und es wird jetzt noch ein wenig bunter. Wenn alle weiter so mit anpacken, dann wird es gelingen. Dann schaffen wir "das" tatsächlich.

Von Tim Kurzbach