Die Vermessung des Menschen
Die Rede ist von "Big Data" – riesigen Datenmengen, die Menschen täglich in den Weiten der digitalen Welt produzieren und die solche Dimensionen annehmen, dass sie kaum noch zu verwalten und zu kontrollieren sind. Den Chancen und Risiken, die mit diesem Datenwust verbunden sind, widmet sich heute die Jahrestagung des Deutschen Ethikrats, dem sowohl Dabrock als auch Losinger angehören.
Lückenlose Dokumentation des Lebens
Die Menge der weltweit kursierenden Daten verdoppelt sich etwa alle ein bis zwei Jahre. Ob beim Onlineshopping, in den Sozialen Netzwerken, beim Autofahren mit Navigationssystem, beim Sport mit einer Fitness-App, beim Musikhören über einen Online-Musikdienst oder beim Speichern von Daten in einer Cloud: Jeder Mensch hinterlässt täglich Datenspuren im Internet, die Rückschlüsse auf die jeweilige Persönlichkeit zulassen.
Beim sogenannten "Life-Logging" tragen Menschen sogar kleine Hightech-Geräte mit sich herum, die fast jeden Atemzug, jeden Schritt mit Kameras oder Messgeräten festhalten, quasi eine lückenlose Dokumentation ihres Lebens erstellen. Und es geht noch weiter: Das eigene Genom auf digitalem Wege entschlüsseln zu lassen, kostet bei verschiedenen Anbietern nicht mehr als ein paar Hundert Euro und ein bisschen Speichel.
Besonders die internationale medizinische Forschung macht sich Big Data zunutze: Wissenschaftler können immer mehr und immer detailgenauere Daten vom Gesundheitszustand der Menschen sammeln und untereinander austauschen. So werden zum Beispiel noch bessere und passgenauere Therapien für Krebspatienten entwickelt. "Die Medizin kann den Mensch in einer Tiefendimension sehen und analysieren, die wir so gar nicht für möglich gehalten hätten", sagt Anton Losinger. Durch Big Data sieht er ganz neue Therapie- und Diagnose-Verfahren entstehen.
Gentest als Einstellungskriterium?
Doch neben den Chancen gibt es auch Risiken. "Im Grunde genommen bewegen wir uns hin zu gläsernen Menschen", fürchtet Losinger. Viele Menschen entwickelten Ängste, ihre Daten preiszugeben – und das nicht ohne Grund. Unwägbarkeiten könnten sich zum Beispiel in der Arbeitswelt entwickeln: "Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen macht einen Gentest zur Voraussetzung, wenn neue Mitarbeiter eingestellt werden", erklärt Losinger. Und auch auf den Sozialstaat sieht er Herausforderungen zukommen: So könnte bei Menschen mit einem ungünstigen genetischen Fingerabdruck in Zukunft nicht nur die Frage aufkommen, ob sie einen Arbeitsplatz bekommen, sondern auch, ob eine Krankenversicherung sie überhaupt noch aufnimmt.
Wie mit all diesen Herausforderungen umgegangen werden könnte, damit will sich der Ethikrat bei seiner heutigen Tagung unter dem Motto "Die Vermessung des Menschen - Big Data und Gesundheit" auseinandersetzen. Den Hauptvortrag wird Günther Oettinger, der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, halten. Die Mitglieder des Rats wollen unter anderem diskutieren, ob die immer engmaschigere Sammlung von Gesundheitsdaten die Freiheit der einzelnen Menschen einschränkt, wie das Vertrauen in die Forschung gewahrt werden und wie der Gesetzgeber zu einem Schutz der individuellen Daten beitragen kann.
"Dagegen ist 'Big Brother' Peanuts"
Denn die Spuren, die Menschen im Netz hinterlassen, sind aussagekräftig. Unternehmen wie Google, Facebook oder Apple, die die Daten von Menschen erheben und vernetzen, haben eine große Macht. Die Konsequenzen eines möglichen Missbrauchs der sensiblen Daten wären verheerend. "'Big Brother' ist im Vergleich zu den technischen Optionen von Big Data Peanuts", analysiert Peter Dabrock trocken.
Medienkompetenz
Die Fähigkeit, mit den unterschiedlichen Medien umzugehen und sie gewinnbringend einzusetzen, wird immer wichtiger. Die Clearingstelle Medienkompetenz der Deutschen Bischofskonferenz zeigt das Engagement der katholischen Kirche in diesem Bereich auf.Der stellvertretende Vorsitzende des Ethikrats sieht die Gefahr, dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – also das Recht an den eigenen Daten – unterlaufen wird. "Nur der Appell, sparsam mit den eigenen Daten umzugehen, reicht da nicht aus. Die Staatengemeinschaft muss auf internationaler, mindestens aber auf europäischer Ebene regulierend eingreifen", lautet sein Aufruf. "Europa muss die eigenen datenrechtlichen Standards gegenüber den großen kalifornischen Datenkonzernen verteidigen".
Weihbischof Anton Losinger ist noch etwas zurückhaltender, wenn es um konkrete Forderungen als Antwort auf das Phänomen Big Data geht. Bei der weiteren Bewertung will er sich von Prinzipien leiten lassen, die sich aus der christlichen Ethik ableiten: Es gehe darum, gewissenhaft die Technikfolgen abzuschätzen und zu fragen, ob diese mit der Menschenwürde vereinbar und sozial verträglich seien.
Sowohl Losinger als auch Dabrock sehen jedoch gerade bei jungen Menschen die Notwendigkeit, das Bewusstsein über den Wert ihrer eigenen Daten zu stärken. Gerade sie hinterließen wie selbstverständlich ihre Datenspuren im Netz. "Doch was einmal auf Facebook gepostet ist, das bleibt. Es gibt kein Zurück", sagt Losinger.