Evangelischer Kirchentag in Berlin beginnt

"Du siehst mich" - unter Polizeischutz

Veröffentlicht am 25.05.2017 um 09:29 Uhr – Lesedauer: 
Ein Besucher hält einen Schal mit der Aufschrift "Du siehst mich" beim 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag
Bild: © KNA
Evangelischer Kirchentag

Berlin ‐ Der Evangelische Kirchentag im Reformationsjahr hat endlich begonnen. Zum Start gab es in Berlin viel Musik, noch mehr zu essen - und Maschinenpistolen statt Pazifismus-Rufen.

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Eine kühle Brise fegt am Mittwochabend immer wieder durch Berlins Straßen. Der guten Laune beim "Abend der Begegnung" zum Auftakt des Evangelischen Kirchentags tut das meteorologische Zwischentief dennoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Gläubige Christen können es als Zeichen des Himmels deuten, "frischen Wind" in ihre Kirchen zu bringen.

In diesem Jahr tun sie es unter dem biblischen Motto "Du siehst mich". Das Zitat soll Gottvertrauen vermitteln und hat nun doch eine weitere, unerwartete Bedeutung erhalten. Die drei Auftaktgottesdienste an Reichstag, Brandenburger Tor und Gendarmenmarkt mit insgesamt etwa 70.000 Besuchern und das bunte Treiben an den Essenständen und Musikbühnen im Zentrum der Hauptstadt spielen sich unter den aufmerksamen Augen zahlreicher Polizisten ab. Rund 1.200 Beamte sind an diesem Abend im Einsatz.

Maschinenpistolen und Schutzwesten spielen eine fast demonstrative Rolle wie wohl bei keinem anderen Christentreffen zuvor. "Ich bin froh, dass sie da sind", sagt Anna aus Hannover, die als freiwillige Ordnerin gekommen ist, fast ein bisschen verschämt, "hoffentlich passiert nichts". Die von Abrüstung und Pazifismus bewegten Kirchentage früherer Jahre scheinen ewig vorbei.

Die Fahnen auf Halbmast

Die Zeiten haben sich geändert. Die Fahnen auf dem Reichstagsgebäude und den Botschaften fremder Länder stehen auf Halbmast, als sich die Massen am Brandenburger Tor vorbei auf den für sie abgesperrten Boulevard Unter den Linden schieben. Der Terroranschlag vom Montagabend im britischen Manchester hat die Sicherheitsvorkehrungen noch dringlicher werden lassen. Die Zufahrten zur Kirchentagsmeile sind durch Gitter abgeriegelt. Eine Terrorfahrt per LKW wie auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz soll sich nicht wiederholen können.

US-Präsident Barack Obama
Bild: ©picture alliance / landov

Sein Auftritt wird mit Spannung erwartet: Der ehemalige US-Präsident Barack Obama soll auf dem Kirchentag mit Bundeskanzlerin Merkel über politisches Engagement sprechen.

Taschenkontrollen sind obligatorisch an den Zugängen zu den großen Plätzen wie beim Brandenburger Tor. Auch bereits kontrollierte und markierte Rucksäcke werden nochmals von den Sicherheitsleuten in Augenschein genommen. Das kostet Zeit, doch die Besucher nehmen es geduldig in Kauf. "Klar mach ich mir auch Sorgen, aber wir wollen uns das tolle Erlebnis hier nicht nehmen lassen", sagt ein aus Hagen in Westfalen angereister Familienvater und fügt scherzend hinzu: "Außerdem sterben immer noch mehr Menschen im Bett als bei Anschlägen."

So entspannt sich die Stimmung zusehends, als die Musik auf den zehn Bühnen zwischen Gendarmenmarkt und Reichstag in Fahrt kommt. Für jeden ist etwas dabei, von Swing über Folk und Sacro-Pop bis Techno. Über die Spree schippern Boote mit Gospelchören und an den Ufern bleiben Schaulustige stehen. Dazwischen erinnert die ein oder andere Drehorgel oder auch eine ortstypische Currywurst daran, wohin die 100.000 Dauerteilnehmer gekommen sind.

Lukullische Grundlagen für Multi-Kulti-Debatten

Wer Wurst nicht mag, hat schier unendlich viele Alternativen. Gefühlt jede Gemeinde der mit gastgebenden Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ist mit einem Stand präsent, auch manche katholische Gemeinde. Die "Speisekarte" reicht vom Wildschweingulasch bis zum selbstgebackenen Zupfkuchen, ergänzt durch exotischere Angebote wie die gefüllten Teigtaschen einer koreanischen Gemeinde. Fast scheint es wie eine lukullische Grundlage für die Multi-Kulti-Debatten der kommenden Tage.

"Der erste Abend ist immer etwas ganz Besonderes und hat eine ganz spezielle Atmosphäre - alle sind voller Erwartung", erzählt der 25-jährige Philip, für den es bereits der siebte Kirchentag ist. Zusammen mit seiner Freundin ist er um vier Uhr früh aufgestanden, um sich von Tübingen aus auf den Weg nach Berlin zu machen. Wenn es dunkel wird, will das Paar mit Kerzen am Brandenburger Tor sitzen - zusammen mit tausenden anderen: "Das wird vermutlich der besinnlichste Moment der ganzen fünf Tage."

Ein Berliner Studentenpärchen ist unversehens in den Strom der Kirchentagsbesucher geraten. Es betrachtet die größtenteils mit dem orange-farbenen Schal des Christentreffens markierten Gläubigen aufmerksam. "Was ist denn der Sinn von diesem Kirchentag?", fragt er. Darauf sie: "Ich glaube, dass sie sich Gott nah fühlen. Und da haste hier jetzt voll die Community für."

Von Gregor Krumpholz und Karin Wollschläger (KNA)

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Nur Martin Luther feiern will der Kirchentag nicht. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit dem Reformator, Ökumene und dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als Gast spielt auch die AfD eine Rolle.