"Eine Erfahrung von Freiheit und Weite"
Als Deutschland am 3. Oktober 1990 wiedervereinigt wurde, war der heutige Augsburger Bischof Konrad Zdarsa Pfarrer im sächsischen Freital. Im Interview mit katholisch.de blickt Zdarsa auf die Wiedervereinigung zurück. Außerdem spricht er über Erfolge und Versäumnisse auf dem Weg zur Einheit, die Situation der Kirche in Ostdeutschland und seine Liebe zu Sachsen.
Frage: Bischof Zdarsa, welche Erinnerungen haben Sie an den 3. Oktober 1990?
Zdarsa: Ich war damals Pfarrer im sächsischen Freital und habe von dort aus am Abend die Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung verfolgt - am Fernseher oder Radio, so genau weiß ich das nicht mehr.
Frage: Und was haben Sie dabei empfunden?
Zdarsa: Ich habe den 3. Oktober uneingeschränkt als Tag der Freude wahrgenommen. Denn an diesem Tag vollendete sich ein Weg, der lange zuvor begonnen hatte - von den ersten zaghaften Forderungen nach einer Wiedervereinigung Deutschlands bis hin zur tatsächlichen Vollendung der Deutschen Einheit. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich den 9. November 1989, also den Tag des Mauerfalls, in der Rückschau wesentlich deutlicher in Erinnerung habe als den 3. Oktober 1990. Der Mauerfall und die Öffnung der Grenzen waren emotional das wichtigere Ereignis.
„Ich hätte mir manchmal gewünscht, dass der Weg des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten stärker auf Augenhöhe stattgefunden hätte.“
Frage: Wenn Sie heute auf die vergangenen 25 Jahre zurückblicken: Finden Sie, dass die Wiedervereinigung insgesamt gelungen ist?
Zdarsa: Mit dieser Beurteilung tue ich mich schwer. Einerseits sind die politischen und wirtschaftlichen Leistungen der vergangenen 25 Jahre sicher nicht zu bestreiten. Andererseits hätte ich mir manchmal gewünscht, dass der Weg des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten stärker auf Augenhöhe stattgefunden hätte. Von den Erfahrungen, die die DDR-Bürger über Jahrzehnte in einem Unterdrücker-System gemacht hatten, hätte man auch im Westen stärker profitieren können. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass wir in der DDR manches schon durchlebt haben, das in weit größerem Maßstab auch im wiedervereinigten Deutschland noch auf uns zukommen wird. Das gilt im Übrigen auch für unsere Kirche: Die Erfahrung, Minderheit zu sein und den eigenen Glauben in einem säkularen Umfeld leben zu müssen, steht manchen Christen im Westen noch bevor.
Frage: Welche Erwartungen haben Sie und andere Geistliche in der damaligen DDR mit der Wiedervereinigung verbunden?
Zdarsa: Konkrete Erwartungen haben wir damals nicht formuliert. Wir haben uns - wie die meisten DDR-Bürger - vor allem darüber gefreut, dass das alte Regime abgewirtschaftet hatte und zusammengebrochen war. Die darauf folgende Erfahrung von Freiheit und Weite hat uns allen gut getan - auch im kirchlichen Raum.
Linktipp: Sehnsucht nach Freiheit
Im Herbst 1989 erlebt die Deutsche Demokratische Republik eine Revolution. Die Bürger der DDR erheben sich gegen den Staat und fordern umfassende Reformen. Karl-Olaf Bergmann hat die damaligen Ereignisse als Jugendlicher in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) erlebt. In einem Gastbeitrag für katholisch.de erinnert sich der Pressesprecher der west- und mitteleuropäischen Ordensprovinz der Legionäre Christi an die Wende in der DDR und das Leben als Katholik im atheistischen "Arbeiter- und Bauernstaat".Frage: Hatten Sie damals die Hoffnung, dass die Kirchen im Osten durch die Wiedervereinigung wieder mehr Zulauf erfahren würden?
Zdarsa: Nein, so haben wir nicht gedacht. Warum auch hätten sich Menschen, die in der DDR keinerlei Erfahrung mit dem christlichen Glauben gemacht hatten, plötzlich den Kirchen zuwenden sollen? Die Freiheit, die die Menschen im Osten dank der Wiedervereinigung erreicht hatten, schloss die Freiheit des Bekenntnisses mit ein. Jeder hatte nun die Möglichkeit, sich ohne äußeren Druck für oder gegen das Christentum zu entscheiden. Natürlich habe auch ich nach wie vor den Glauben bezeugt und den Menschen die Frohe Botschaft verkündet; vereinnahmen wollte ich sie aber nicht. Die Freiheit selbst, so habe ich es damals in einer Predigt formuliert, sollte den Menschen zur besten Möglichkeit der Entscheidung werden.
Frage: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre ersten Begegnungen mit westdeutschen Priestern?
Zdarsa: Die ersten Begegnungen habe ich schon während meines Studiums in Rom erlebt. Und ich erinnere mich, dass der Umgang mit Kommilitonen und Priestern aus Lateinamerika oder anderen Kontinenten wesentlich unbefangener war. Mit Studenten aus der Bundesrepublik kam das Gespräch dagegen immer sehr schnell auf den Ost-West-Konflikt, der aus westlicher Perspektive natürlich ganz anders - und aus meiner Sicht nicht immer ganz gerecht und sachkundig - beurteilt wurde. Ich wurde manchmal sehr kritisch beäugt, nur weil ich aus der DDR kam. Was viele damals nicht sehen wollten: Wir haben in der DDR genauso gelebt und gelacht, das Wetter war dort genauso gut oder schlecht, und an die Mauer haben wir auch nicht ständig gedacht. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will die DDR nicht verklären, aber aus westlicher Perspektive wurde vieles übertrieben negativ dargestellt. Nicht umsonst ist dann später das Schimpfwort vom "Besser-Wessi" entstanden, der belehrte und alles besser wusste.
„Berlin entwickelt sich mehr und mehr zum politischen und geistigen Zentrum, deshalb muss auch die Kirche dort mit ihren Positionen sichtbar sein.“
Frage: Sie haben in den vergangenen Jahren mehrfach eine stärkere kirchliche Präsenz in Berlin angemahnt, um die Wiedervereinigung auch kirchlicherseits noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen...
Zdarsa: Dazu stehe ich nach wie vor. Und inzwischen ist ja auch Bewegung in diese Frage gekommen: Eine Arbeitsgruppe der Bischofskonferenz beschäftigt sich seit einem Jahr ganz konkret mit der Frage der kirchlichen Präsenz in Berlin. Die Stadt entwickelt sich mehr und mehr zum politischen und geistigen Zentrum, deshalb muss auch die Kirche dort mit ihren Positionen sichtbar sein.
Frage: Sie selbst sind im Jahr 2010 vom Osten in den Westen gegangen - von Görlitz wechselten Sie als Bischof nach Augsburg. Wie sehr vermissen Sie in Schwaben ihre sächsische Heimat?
Zdarsa: Ich war erst vor kurzem wieder für ein paar Tage Urlaub und Exerzitien in Sachsen. Und wenn ich dann das Elbtal oder Dresden und Görlitz sehe, dann weckt das schon heimatliche Gefühle. Wenn ich die Menschen dort reden höre, den Dresdner Sound höre, dann weiß ich: Hier bin ich immer noch verwurzelt. Wobei ich ergänzen möchte: Ein Teil meiner verwandtschaftlichen Wurzeln reicht sogar ins Bistum Augsburg zurück, ins Nördlinger Ries.
Zur Person
Konrad Zdarsa (*1944) ist seit 2010 Bischof von Augsburg, zuvor war er drei Jahre Oberhirte von Görlitz.Chronologie: Der Untergang der DDR
Der Niedergang der DDR kündigte sich lange an, doch im Laufe des Jahres 1989 spitzte sich die Entwicklung dramatisch zu. Katholisch.de dokumentiert die wichtigsten Stationen auf dem Weg zu Mauerfall und Wiedervereinigung:
2. Mai 1989: Ungarn beginnt mit dem im März angekündigten Abbau der Grenzanlagen zu Österreich.
7. Mai 1989: Bei den Kommunalwahlen in der DDR stimmen laut offiziellem Wahlergebnis 98,85 Prozent für die Liste der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In Leipzig demonstrieren nach Bekanntgabe des Ergebnisses rund 1.000 Menschen gegen Wahlfälschung, 100 Demonstranten werden festgenommen. Gegen Ende des Monats stellen mehrere Bürger Strafanzeige wegen vermuteter Wahlfälschung.
7. Juni 1989: Polizei und Staatssicherheit lösen in Ost-Berlin eine Demonstration auf, deren Teilnehmer die Ergebnisse der Kommunalwahlen anzweifeln; mehr als 120 Demonstranten werden vorläufig festgenommen.
27. Juni 1989: Die Außenminister von Ungarn und Österreich besuchen die gemeinsame Staatsgrenze und durchschneiden den Stacheldrahtzaun des Eisernen Vorhangs. In den folgenden Monaten flüchten Tausende von DDR-Bürgern über Ungarn sowie die Botschaften der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Prag und Budapest in den Westen.
August 1989: Die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest (14. August) und Prag (23. August) werden wegen Überfüllung geschlossen, nachdem dort mehrere hundert ausreisewillige DDR-Bürger Zuflucht gesucht haben.
19. August 1989: Rund 600 DDR-Bürger nutzen bei einem "Paneuropäischen Picknick" an der ungarisch-österreichischen Grenze die Gelegenheit zur Massenflucht in den Westen.
4. September 1989: Nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche demonstrieren bei der ersten "Montagsdemonstration" rund 1.200 Menschen unter dem Motto "Reisefreiheit statt Massenflucht". Bis zum Fall der Mauer finden die wöchentlichen "Montagsdemonstrationen" immer größeren Zulauf. Teilweise kommt es dabei zu Zusammenstößen mit Polizei und Staatssicherheit. Bekanntester Slogan der Demonstrationen ist "Wir sind das Volk".
7. September 1989: Polizei und Staatssicherheit unterbinden auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz gewaltsam eine Demonstration gegen die vermutete Fälschung des Ergebnisses der Kommunalwahlen; 40 Personen werden festgenommen.
11. September 1989: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich. Bis zum Monatsende reisen rund 25.000 DDR-Bürger über Ungarn in den Westen aus.
19. September 1989: Die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau wird wegen Überfüllung geschlossen.
30. September 1989: Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) verkündet den fast 7.000 Flüchtlingen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik, dass sie in den Westen ausreisen dürfen. Wenige Tage später reisen die Flüchtlinge in Sonderzügen in den Westen.
7. Oktober 1989: Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow mahnt bei den Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR Reformen an: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Neben den offiziellen Feiern kommt es in mehreren Städten der DDR zu Demonstrationen für Reformen.
18. Oktober 1989: Das Zentralkomitee der SED drängt Staats- und Parteichef Erich Honecker angesichts der anhaltenden Massenproteste zum Rücktritt und wählt Egon Krenz zu seinem Nachfolger.
30. Oktober 1989: Mehr als 400.000 Menschen demonstrieren in mehreren DDR-Städten für Reformen, freie Wahlen und Reisefreiheit.
4. November 1989: In Ost-Berlin demonstrieren rund eine halbe Million Menschen für Reformen und Reisefreiheit, darunter prominente Geistliche und Schriftsteller.
9. November 1989: Während einer Pressekonferenz gibt Politbüro-Mitglied Günter Schabowski eine neue Reiseregelung bekannt, die es jedem DDR-Bürger ermöglicht, das Land kurzfristig und ohne Voraussetzungen zu verlassen. Damit ist die Mauer offen. Tausende Ostberliner reisen noch am selben Abend für wenige Stunden in den Westen oder feiern mit Westberlinern auf den Grenzanlagen.
27. November 1989: Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) legt einen "Zehn-Punkte-Plan" zur Wiedererlangung der deutschen Einheit vor.
22. Dezember 1989: Der neue DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (SED) und Bundeskanzler Kohl eröffnen den Grenzübergang am Brandenburger Tor, das erstmals seit 1961 wieder durchschritten werden kann.
18. März 1990: Bei den ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer erringt die konservative "Allianz für Deutschland" 47,8 Prozent. Am 12. April wird Lothar de Maiziere (CDU) zum neuen DDR-Ministerpräsidenten gewählt.
1. Juli 1990: Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR tritt in Kraft. Damit wird in der DDR unter anderem die D-Mark eingeführt.
14. bis 16. Juli 1990: Bundeskanzler Kohl verhandelt mit Gorbatschow über die Wiedervereinigung. Gorbatschow lehnt eine NATO-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands anfänglich ab, gesteht Deutschland schließlich aber die freie Entscheidung zu.
22. Juli 1990: Die Volkskammer beschließt, die 1952 abgeschafften Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wieder zu gründen.
31. August 1990: Der Einigungsvertrag wird unterzeichnet.
3. Oktober 1990: Die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen treten der Bundesrepublik Deutschland bei. Die DDR hört auf zu existieren.