Einziges Ziel: USA
Frage: Herr Jentgens, einen Brief an den US-Präsidenten schreibt man nicht alle Tage. Was versprechen Sie sich von dem ungewöhnlichen Schritt?
Jentgens: Zunächst einmal mehr Aufmerksamkeit für ein Thema, das auch in unserer Jahreskampagne "Ich will Zukunft!" eine zentrale Rolle spielt. Es geht uns darum, die Lebensbedingungen junger Menschen in Lateinamerika zu verbessern. Gerade in Ländern wie Guatemala oder El Salvador besteht großer Nachholbedarf. Dass immer mehr Heranwachsende aus Zentralamerika mit allen Mitteln in die USA wollen, zeigt, wie wenig Perspektiven die Jugendlichen in ihrer Heimat haben.
Frage: Über welche Größenordnungen sprechen wir?
Jentgens: Seit Oktober haben die Grenzbehörden rund 52.000 Minderjährige aufgenommen. Wir gehen davon aus, dass diese Zahl bis Oktober auf 90.000 anschwellen wird. Der Druck, der auf den USA lastet, nimmt zu. Und damit die Gefahr, dass der Schutz gerade von jugendlichen Flüchtlingen nicht auf der Strecke bleibt.
Frage: Warum machen sich die Mädchen und Jungen auf eine teilweise mehrere tausend Kilometer lange Reise mit völlig ungewissem Ausgang?
Jentgens: Viele fliehen vor Gewalt und Kriminalität. Sie müssen sich vorstellen, dass in Guatemala 90 Prozent der Straftaten nicht verfolgt werden und nicht nur in Guatemala-Stadt ganze Stadtviertel unter der Herrschaft von Jugendbanden stehen. Andere wiederum bekommen mit, welchen Lebensstandard Familien haben, deren Verwandte in den USA arbeiten, und träumen schlicht von einem besseren Auskommen. Wieder andere wollen mit ihren Eltern zusammenkommen, die teilweise schon seit Jahren und illegal in den Vereinigten Staaten leben und arbeiten.
Frage: Wie kommen die Jugendlichen in die USA?
Jentgens: Hinter vielen liegen ungeheuerliche Leidenswege. Inzwischen bieten Schlepperbanden "Sonderkonditionen" für die mehrtägige Reise auf verschiedenen Verkehrswegen bis zur mexikanischen Grenze. Trotzdem kostet diese gefährliche Überfahrt Hunderte US-Dollar. An der Grenze angekommen, bleiben die Mädchen und Jungen nicht selten sich selbst überlassen. Traurige Berühmtheit hat eine Güterzugverbindung erlangt, die einmal quer durch Mexiko geht.
Frage: Auch genannt "La Bestia" - "Die Bestie".
Jentgens: Dort sind die Flüchtlinge, darunter auch Jugendliche mitunter tagelang auf, unter oder zwischen den Waggons unterwegs. Immer wieder schlafen die blinden Passagiere vor Entkräftung ein, fallen vom Zug und kommen dadurch zu Tode.
Frage: Was sollten die USA tun?
Jentgens: Zunächst geht es uns darum, dass die 2008 beschlossenen Gesetze eingehalten werden und erhalten bleiben. Danach dürfen Minderjährige, wenn sie die USA erreichen, nicht ohne Einzelfallprüfung abgeschoben werden. Sie sollen zudem nach drei Tagen an eine besondere Behörde des Gesundheitsministeriums übergeben werden.
„Der Umgang mit Flüchtlingen ist kein spezifisch amerikanisches Problem. Da brauchen Sie nur an die EU-Außengrenzen zu schauen“
Frage: Häufig werden Zurückweisungen damit begründet, dass die Jugendlichen Verwandtschaft in ihren Herkunftsländern haben.
Jentgens: Das mag grundsätzlich stimmen. Aber das sind dann vielfach entfernte Onkel oder Tanten. Die Eltern jedoch leben in den USA. Bei der Familienzusammenführung sollten die US-Behörden stärker auf diesen Aspekt achten. Auch wenn die Eltern in der Illegalität leben.
Frage: In ihrem Brief an Obama klingt an, dass die mittelamerikanischen Länder die Probleme, die die Jugendlichen zur Flucht bewegen, nicht allein lösen können. Auch hier sei die Hilfe der USA gefragt. Wie meinen Sie das?
Jentgens: Organisierte Kriminalität, Drogenhandel oder schwache staatliche Institutionen sind grenzüberschreitende Phänomene. Gleichzeitig haben die Vereinigten Staaten großen Einfluss in der Region. Den könnten sie nutzen.
Frage: Was tut Adveniat für die Migranten aus Zentralamerika?
Jentgens: Die Projektpartner von Adveniat unterhalten unter anderem in den Grenzstädten in Mexiko und den USA Einrichtungen, in denen wir beispielsweise pro Jahr rund 7.000 Flüchtlinge aufnehmen, darunter viele Jugendliche und Menschen, die abgeschoben wurden. Sie informieren sie über ihre Rechte, bieten medizinische und psychologische Betreuung. Viele haben alles in ihrer Heimat aufgegeben und stehen jetzt vor der Frage: Wo soll ich hin?
Frage: Rechnen Sie auf eine Antwort aus dem Weißen Haus?
Jentgens: Obama ist jemand, der sich in dieser Frage engagiert. Insofern rechnen wir tatsächlich mit einer Antwort. Auch Entwicklungsminister Gerd Müller haben wir angeschrieben. Darüber sollten wir eines nicht vergessen: Der Umgang mit Flüchtlingen ist kein spezifisch amerikanisches Problem. Da brauchen Sie nur an die EU-Außengrenzen zu schauen. Dass gerade junge Menschen in ihren Heimatländern die Chance auf eine lebenswerte Zukunft haben, dafür sollten wir all eintreten.
Das Interview führte Joachim Heinz (KNA)