Entfremdungsgefahr
"Wenn der dort so redet wie hier bei uns, kriegt er eins auf die Mütze", prophezeite ein Abgeordneter vor Weihnachten, als Marx im Oberland eine Flüchtlingsunterkunft besuchte. Die Differenz der Standpunkte markiert ziemlich genau das Wort Obergrenze, das die CSU gebetsmühlenartig beschwört und neuerdings mit der Zahl 200.000 konkretisiert. Der Kardinal lehnt schon den Begriff als irreführend ab.
Mancher Christsoziale hat die Positionierung von Marx und seinem evangelischen Kollegen - dem bayerischen Landesbischof und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm - dahingehend missverstanden, als redeten die Kirchen einer völlig unbegrenzten Zuwanderung das Wort. Während vor allem die Kommunalpolitiker kaum noch wüssten, wie sie die Unterbringung stemmen sollten.
Marx weiß um diese Stimmungen. Doch auch die Kirche hat in den vergangenen Wochen einiges schlucken müssen. Da fiel ein CSU-Gemeinderat mit rassistischen Sprüchen über den afrikanischen Ortspfarrer auf, da trat der bayerische Finanzminister Markus Söder eine Debatte über die angebliche Bereicherung der Kirche aus der Vermietung von Flüchtlingsunterkünften los. Das lässt in der Flüchtlingshilfe engagierte Christen im Freistaat zunehmend fragen, wem sie bei der nächsten Wahl noch ihre Stimme geben können.
Der Karinal ist "wild entschlossen"
Der Kardinal sei, so heißt es in seiner Umgebung, "wild entschlossen", auch in Kreuth seine Meinung zu sagen. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm ebenso wenig wie Parteichef Horst Seehofer. Der Erzbischof schätze es, "wenn man mal Tacheles reden kann", sagt jemand aus seinem Stab. Dass nun die komplette Fraktion auf Konfrontation aus sei, wäre aber wohl übertrieben. So mancher hofft sogar, wie zu hören ist, dass der Kardinal seinen Kollegen einmal die Leviten liest, welche Politik nach christlichen Maßstäben noch vertretbar ist.
Joachim Unterländer, Mitglied des Fraktionsvorstands und Sprecher für Fragen der katholischen Kirche, ist bestrebt, den Ball flach zu halten. Von einer gespannten Situation will er nichts wissen. Gesprächsbedarf - den gebe es aber schon. Wobei es aus seiner Sicht eine "ungute Arbeitsteilung" wäre, wenn sich die Kirche auf moralische Ermahnungen beschränken, jedoch die schwierige Suche nach praktikablen Lösungen, etwa zur Begrenzung des Zuzugs, der Politik überlassen würde.
Alois Glück warnt seine Partei vor einem "Entfremdungsprozess". Der frühere Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) sieht die "reale Gefahr", dass die CSU ihre treuesten Wähler gegen sich aufbringen könnte. Viele seiner Parteifreunde übersähen, was es in den Kirchen an ehrenamtlichem Einsatz für die Flüchtlinge und an professioneller Unterstützung durch die kirchlichen Verbände gebe. Man habe viel aneinander vorbeigeredet. Daher sei es gut, sich in Kreuth auszusprechen.
Zwischen "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik"?
"Realisten gegen Idealisten" in Stellung zu bringen, davon hält der langjährige einstige Landtagsfraktionschef Glück nichts. Auch die Unterscheidung zwischen "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik" helfe nicht. Wenn die Kirchen für eine menschenwürdige Behandlung aller Flüchtlinge einträten - einschließlich derer, die nicht auf Dauer in Deutschland bleiben könnten - verteidigten sie die Identität Europas, ist Glück überzeugt.
Der Münchner Kardinal bei einer CSU-Klausur - ein normaler Vorgang, gäbe es den Streit um die Flüchtlinge nicht, so könnte man meinen. Allerdings liegt sein letzter Abstecher nach Kreuth auch schon wieder sechs Jahre zurück. Und die "wie selbstverständlich ererbte Übereinstimmung", so ein Marx-Mitarbeiter, die "gibt es so nicht mehr" zwischen Kirche und C-Parteien - nicht nur in der Flüchtlingspolitik.