Erster außerbiblischer Beleg für Jesaja gefunden?
Kein alttestamentlicher Prophet ist im Neuen Testament wichtiger als Jesaja. Die meisten alttestamentlichen Zitate in den Evangelien stammen aus dem ihm zugeschriebenen Prophetenbuch. Der Kirchenvater Hieronymus nannte ihn sogar einen "Evangelisten". Nun hat die israelische Archäologin Eilat Mazar vielleicht den ersten außerbiblischen Beleg für die Existenz dieses Propheten veröffentlicht. Bei der von der Hebräischen Universität in Jerusalem durchgeführten Ausgrabung in dem Bereich zwischen der Davidsstadt und dem Tempelberg, in dem als Ophel bezeichneten Bereich, wurde ein Siegelabdruck gefunden, auf dem der Name Jesaja zu lesen ist.
Der Fundkontext lässt sich auf die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier datieren (586 v. Chr.). In derselben Ausgrabung wurde zuvor auch ein Siegelabdruck des Königs Hiskija (725-696 v. Chr.) gefunden, dessen Königsherrschaft gemäß der biblischen Darstellung eng mit dem Wirken des Propheten verbunden war. So kommt Eilat Mazar am Ende ihres wissenschaftlichen Artikels, der die Veröffentlichung des Fundes beinhalte, zu dem Ergebnis: "Dieser Siegelabdruck Jesajas ist einzigartig und es bleibt die Frage offen, wie er zu lesen ist. Allerdings lässt die enge Beziehung zwischen Jesaja und dem König Hiskija, wie sie in der Bibel beschrieben ist, und der Umstand, dass dieser Siegelabdruck in der Nähe des Siegelabdrucks, der den Namen Hiskijas trägt, gefunden wurde, die Möglichkeit offen, dass dies – trotz der Schwierigkeiten des beschädigten Randes – ein Siegelabdruck des Propheten Jesaja, des Beraters Königs Hiskijas ist."
Noch kein genügender Grund
Der ovale, 1.3 Zentimeter große Siegelabdruck ist nicht vollständig erhalten. Das obere Drittel fehlt und der untere linke Rand ist beschädigt. Ursprünglich bestand der Siegelabdruck aus drei Zeilen. In der ersten Zeile gab es wahrscheinlich eine bildliche Darstellung und die zwei weiteren Zeilen benennen den Besitzer des Siegels. Da jedoch der linke Rand beschädigt wurde, ist nicht eindeutig zu klären, wer der Besitzer des Siegels war. Eilat Mazar weist in ihrem Artikel selbst darauf hin, dass es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten gibt. In der zweiten Zeile lässt sich unzweifelhaft "lejesha'jah" (Hebräisch: לישעיה) entziffern. Vermutlich ist durch die Beschädigung des Siegelabdrucks der hebräische Buchstabe Waw am Ende der Zeile verlorengegangen. Ergänzt man ihn, steht in dieser Zeile: "gehörend zu Jesaja" (Hebräisch: לישעיה[ו]). Diese Rekonstruktion kann als unstrittig angesehen werden. Aber dieser Name alleine ist noch kein genügender Grund, den Siegelabdruck dem Propheten Jesaja zuzuschreiben.
Bereits innerhalb Bibel lässt sich in den Chronikbüchern ein Tempelsänger mit dem gleichen Namen finden (1 Chr 25,15). Entscheiden für die Interpretation des Siegelabdruckes ist die dritte Zeile, in der drei hebräische Buchstaben erhalten sind: "navi" (Hebräisch: נבי). Wie es in der Bibel üblich ist, wird eine Person auf hebräischen Siegeln durch die Nennung des Vaternamens identifiziert. Im Falle des Propheten Jesaja würde man daher entsprechend Jes 1,1 die Wörter "Sohn des Amoz" (Hebräisch: בן אמוץ) erwarten. Auf den kleinen hebräischen Siegeln war es nicht unüblich, dass das hebräische Wort für Sohn ausgelassen wurde, um Platz zu sparen. Daher legt sich der Schluss nahe, dass das in der dritten Zeile zu lesende Wort den Vater des unbekannten Jesajas bezeichnet: "Jesaja, [Sohn des] Navi“. Der hebräische Personenname Navi ist auf mehreren Siegelabdrücken belegt. Unter anderem gibt es zwei Exemplare aus dem 7. Jahrhundert v. Chr., die 44 Kilometer südwestlich von Jerusalem gefunden wurden.
Ein Jesaja oder der Jesaja?
Eilat Mazar vermutet jedoch, dass abweichend von der üblichen Form nicht der Name des Vaters angegeben wurde, sondern die Berufsbezeichnung. Sie geht davon aus, dass durch die Beschädigung des linken Randes der hebräische Buchstabe Alef zerstört wurde. So rekonstruiert sie das hebräische Wort נבי[א], womit der Jesaja des Siegelabdrucks als Prophet bezeichnet wäre. Aus dieser Annahme ergeben sich aber mehrere Probleme. Wie ein früher gefundener Siegelabdruck aus der Davidsstadt belegt, gab es Siegel, auf denen eine Berufsbezeichnung angegeben wurde. Aber ein Vergleich der beiden Siegelabdrücke zeigt zwei entscheidende Unterschiede. Erstens, die Berufsbezeichnung steht dort nicht direkt hinter dem Namen des Siegelbesitzers, sondern identifiziert den genannten Vater des Siegelbesitzers ("Sohn Zakars des Heilers"). Zweitens, vor der Bezeichnung des Vaters steht ein Artikel ("des Heilers"). Ein solcher Artikel ist jedoch auf dem von Eilat Mazar veröffentlichten Siegelabdruck nicht gegeben.
Daher nimmt sie an, dass der Artikel, der im Hebräischen nur aus einem Buchstaben besteht und üblicherweise dem Wort, zu dem er gehört, als Bestandteil vorgefügt ist, am Ende der zweiten Zeile gestanden habe und durch die Beschädigung am Rand verlorengegangen sei. Um somit den von ihr gefundenen Siegelabdruck mit dem Propheten Jesaja in Verbindung zu bringen, muss sie in ihrer Deutung insgesamt drei zusätzliche Buchstaben voraussetzen, die nicht erhalten sind. Bis kein vollständig erhaltener Siegelabdruck gefunden wird, der Eilat Mazars Interpretation bestätigt, liegt die Annahme jedoch nahe, dass der genannte Jesaja nicht der große Prophet der Bibel ist, sondern einfach ein bisher unbekannter Jesaja, dessen Vater Navi hieß.