Timo Güzelmansur über die Folgen der Attentate in Ankara

"Es herrscht ein Klima der Gewalt"

Veröffentlicht am 15.10.2015 um 00:01 Uhr – Von Julia-Maria Lauer – Lesedauer: 
Türkei

Bonn ‐ Wer steckt hinter den Attentaten von Ankara? Es gibt noch keine Beweise, aber viele Hinweise. Der deutsch-türkische Theologe Timo Güzelmansur erläutert sie im Interview mit katholisch.de und berichtet von der brenzligen Lage der Christen in der Türkei.

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Frage: Herr Güzelmansur, am vergangenen Samstag kam es in Ankara zu zwei Bombenanschlägen auf eine regierungskritische Demonstration. Fast 100 Menschen starben, mehrere Hundert wurden verletzt. Wie ist aktuell die Situation im Land?

Timo Güzelmansur: Die Situation ist unglaublich angespannt. Noch weiß niemand, wer hinter den Anschlägen steckt. Manche beschuldigen die kurdische Arbeiterpartei PKK, andere wiederum vermuten, dass der "Islamische Staat" dahintersteckt. Es herrscht eine allgemeine Unsicherheit. Die Menschen wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Wenn mitten in der Türkei so ein Massenmord stattfinden kann, dann ist man nirgendwo im Land mehr sicher. Das macht nicht nur den Kurden Angst, sondern jedem, der sich irgendwie in die Öffentlichkeit traut.

Frage: Das heißt, es wird im ganzen Land mit weiteren Anschlägen gerechnet?

Güzelmansur: Wenn die kaltblütigen Mörder im Herzen der Türkei zuschlagen können, zeigt das, dass sie in der Lage sind, dies überall zu tun. Es gibt natürlich viele Fragen, die zu klären sind. Die Polizei hat offensichtlich nicht genug für die Sicherheit getan. Bis jetzt kann man nicht beantworten, warum sie zum Beispiel so lasche Sicherheitskontrollen durchgeführt hat, obwohl Datum und Route der Demonstration schon seit Monaten bekannt waren. Ein türkischer Journalist hat die interessante Frage gestellt, warum bei fast 100 Toten und 500 Verletzten kein einziger Polizist verletzt oder getötet worden ist. Da sind der Innenminister und die höchsten Regierungskreise gefragt. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, Menschen zu schützen und weitere Anschläge zu verhindern, egal von wem sie ausgeübt werden.

Frage: Die Regierung wird ja von manchen Seiten beschuldigt, selbst hinter den Attentaten zu stecken…

Güzelmansur: Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sagt, dass hinter dem Anschlag der "Islamische Staat" steckt. Deswegen werde in diese Richtung ermittelt. Vielleicht gibt es eine Spur, die das andeutet, das kann ich nicht beurteilen. Ich persönlich denke aber, die Untersuchungen sollten nicht nur in diese Richtung gehen. Denn es gibt in der Türkei auch Kräfte, die der kurdischen Bevölkerung nichts Gutes wollen und die nichts von einer demokratischen Öffnung des Landes halten. Es ist nicht glaubwürdig, wenn man nur in Richtung "Islamischer Staat" ermittelt, aber gleichzeitig AKP-Anhänger vor laufenden Kameras zu weiterem Blutvergießen aufrufen. Sollte es Erdogan nicht wie geplant gelingen, in der Türkei ein Präsidialsystem mit umfangreichen Befugnissen für sich als Präsident einzuführen, hat ein AKP-Sympathisant bei einer Veranstaltung im Norden des Landes zu weiteren Attentaten aufgerufen. Es ist nicht bekannt, ob es auf diese Hetze hin zu einer staatsanwaltlichen Ermittlung kam, obwohl es in der Türkei genug Gesetze dafür gäbe. Auch der Ministerpräsident hat sich nicht geäußert. Es herrscht ein Klima der Gewalt.

Timo Güzelmansur
Bild: ©Timo Güzelmansur

Dr. Timo Güzelmansur ist Geschäftsführer der christlich-islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle (Cibedo) der Deutschen Bischofskonferenz.

Frage: Geht es also vor allem um einen Machtkampf der AKP Erdogans vor den Wahlen im November?

Güzelmansur: Bei den Wahlen im Juni 2015 hat die AKP die absolute Mehrheit verpasst. Seitdem hat sie nach Möglichkeiten gesucht, um Neuwahlen abzuhalten, um doch noch die absolute Mehrheit zu erringen. Nach Untersuchungen hat die Regierung stets politischen Profit aus Auseinandersetzungen mit der PKK geschlagen. Möglicherweise hat die AKP auf diese Karte gesetzt und den Konflikt mit der PKK angeheizt, um das Land zu destabilisieren und sich die Macht zu sichern. Das wäre Erdogan und seiner Entourage durchaus zuzutrauen; Belege dafür gibt es aber nicht.

Frage: Sie denken, dass die Regierung von den Attentaten profitiert. Würden Sie denn so weit gehen, zu sagen, dass sie selbst dahinter steckt?

Güzelmansur: So würde ich es nicht sagen. Aber ich frage mich schon, warum der türkische Geheimdienst, der in der Region sehr aktiv ist, von solchen Vorhaben nichts gewusst hat. Warum ist kein Polizist bei den Anschlägen verletzt worden? Wenn eine Kundgebung mit tausenden Teilnehmern stattfindet, dann muss auch das Sicherheitsaufgebot entsprechend groß sein. Man kann sich also fragen, ob da vielleicht mit Wissen des Geheimdienstes oder der Polizei operiert wurde. Natürlich sind das jedoch hochspekulative Fragen.

Frage: Welche weiteren Stimmen gibt es zu möglichen Interpretationen der Anschläge?

Güzelmansur: Die Türkei hat sich lange nicht am Kampf gegen den "Islamischen Staat" beteiligt. Nur in der letzten Zeit hat sie scheinbar aktiv den Kampf aufgenommen. Obwohl sie mehrheitlich die PKK und die Kurden in Syrien und im Irak bombardiert hat, galt doch die eine oder andere Bombe auch dem "Islamischen Staat". Dafür will sich dieser vielleicht an der Türkei rächen. Die Türkei hat eine 1.000 Kilometer lange Grenze zu Syrien. Es ist so gut wie unmöglich, diese vollständig zu sichern. Deswegen haben Terroristen leichtes Spiel, ins Land einzudringen. Es gibt viele Berichte, dass der "Islamische Staat" in der Türkei Zellen eingerichtet hat - als logistische Rückzugsorte und um Menschen anzuwerben. Es könnte also sein, dass diese Zellen aktiviert worden sind, um den Staat an empfindlichen Stellen anzugreifen und zu destabilisieren.

Frage: Was bedeutet der Konflikt für die Christen im Land?

Güzelmansur: Er verheißt nichts Gutes für die Christen. Der Konflikt ist zunächst einer zwischen Kurden jeglicher Couleur und der AKP-Regierung. Im Konfliktfall sagen AKP-Anhänger gerne über die PKK: "Das sind Armenier, die im Gewand der PKK gegen die Türkei operieren." Die Armenier sind Christen. Es steckt also klar dahinter, dass die Christen eigentlich Feinde sind. Die Armenier sind in der Türkei das Urfeindbild, sie sind die "Verräter". Wenn die Gewalt sich gegen die Kurden richtet, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch gegen die Christen im Land gehen wird. Die Christen hoffen, dass das Ganze sich bald legt. Ich befürchte aber, dass am Ende die Leidtragenden auch die Christen sein werden. Da sowieso der ganze Nahe Osten im Aufruhr ist, fragen sich viele Christen schon jetzt, wie lange sie dort noch sicher sind. Ein Hoffnungszeichen ist, dass bei den Parlamentswahlen im Juni vier Christen ins Parlament gewählt wurden. Es war ein Novum seit fast 50 Jahren, dass so viele Christen vertreten waren. Ob auch im nächsten Parlament Christen sitzen werden, wissen wir nicht. Falls nicht, wäre das ein Rückschlag für Demokratisierung und Pluralität in diesem Land.

Frage: Wird sich der Konflikt auf Deutschland auswirken und wenn ja, wie?

Güzelmansur: Wir haben in Deutschland schon jetzt ein sehr angespanntes Verhältnis zwischen Kurden, PKK-Sympathisanten und den "Grauen Wölfen", den türkischen Nationalisten. Das hat sich schon einige Male in Straßenschlachten entladen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Gruppen wieder aufeinander losgehen. In Troisdorf bei Bonn hat beispielsweise ein Drogeriemarkt eine Aktion mit Rupert Neudeck gestartet. Er sitzt an der Kasse und spendet seine Einnahmen für gemeinnützige Zwecke der kurdischen Gemeinde. Türkische Nationalisten haben daraufhin zum Boykott des Drogeriemarktes aufgerufen. Sie haben von "Verrat" gesprochen. Es brodelt unter der Decke und braucht nur einen Funken, dass neue Gewalt entsteht. Viele Kurden kommen aus Syrien und aus dem Irak nach Deutschland. Die Konflikte von dort können sich hierher verlagern. In manchen Flüchtlingsheimen finden sie bereits statt, wo die Menschen auf engstem Raum miteinander auskommen müssen.

Hintergrund: Polizeichef von Ankara entlassen

Die türkische Regierung hat den Polizeichef von Ankara seines Amtes enthoben. Auch die Leiter der Sicherheits- und der Geheimdienstabteilung der Polizei in in der Hauptstadt seien suspendiert worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch. Damit solle eine umfassende Untersuchung des schwersten Anschlags in der Geschichte der Türkei ermöglicht werden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits am Dienstagabend gesagt: "Es hat wohl bestimmt irgendwo einen Fehler, ein Versäumnis gegeben." Rücktrittsforderungen an Minister wegen der Bluttat wies er jedoch zurück. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu hatte gefordert, der Innen- und der Justizminister sollten zurücktreten. Erdogan kündigte eine Untersuchung durch den ihm unterstellten Staatskontrollrat an. Zu dem Anschlag bekannte sich bislang niemand. Die türkische Zeitung "Hürriyet" berichtete, zwei der Selbstmordattentäter seien inzwischen identifiziert worden. Zumindest einer soll demnach Verbindungen zur Terrormiliz IS haben. (dpa)
Von Julia-Maria Lauer