"Europa verrät seine christlichen Werte"
Mit Verweis auf eine veränderte Sicherheitslage haben zahlreiche Hilfsorgansationen in den vergangenen Tagen ihre Seenotrettung auf dem Mittelmeer vorerst gestoppt. Pater Frido Pflüger beobachtet diese Entwicklung mit großer Sorge. Im Interview mit katholisch.de spricht der Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland über mögliche Folgen für die Flüchtlinge, die in Afrika auf ihre Weiterreise nach Europa warten. Außerdem übt er scharfe Kritik an der Abschottungspolitik der Europäischen Union und empfiehlt stattdessen Uganda als Vorbild für den Umgang mit Flüchtlingen.
Frage: Pater Pflüger, in den vergangenen Tagen haben zahlreiche Hilfsorganisationen mit Verweis auf Angriffe der libyschen Küstenwache ihre Seenotrettung für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer weitgehend eingestellt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
Pflüger: Nachdem wir schon lange erleben, dass die Flucht nach Europa kriminalisiert wird, sehen wir jetzt mit großer Sorge, dass auch die Retter kriminalisiert werden. Das führt dazu, dass die libysche Küstenwache mit dem Segen der Europäischen Union mehr Kontrolle im Mittelmeer übernimmt – das lässt nichts Gutes erahnen. Europa stärkt damit auch eine Entwicklung, in der kriminelle Banden und Warlords immer mehr Macht über die libysche Küste bekommen.
Frage: Welche Folgen hat das für die Flüchtlinge, die noch in Libyen sind und auf ihre Überfahrt nach Europa hoffen?
Pflüger: Libyen hindert Flüchtlinge schon jetzt auf brutale Art und Weise an der Flucht nach Europa. Stattdessen müssen sie in Internierungslagern ausharren, in denen sie massiver Gewalt und Misshandlung ausgesetzt sind. Viele der Betroffenen wären in Europa übrigens asylberechtigt. Aber Europa tut alles, damit sie ihr Asylrecht hier nicht einfordern können.
So hilft der Jesuiten-Flüchtlingsdienst:
In Italien, wo weiterhin viele Flüchlinge ankommen, betreibt der Jesuiten-Flüchtlinsdienst unter dem Namen "Centro Astalli" mehrere Anlaufstellen für geflüchtete Menschen. Dort können die Betroffenen ein warmes Essen und andere Hilfen bekommen; für besonders Schutzbedürftige werden auch Notunterkünfte angeboten. Außerdem hilft der Flüchtlingsdienst bei der Suche nach einer Wohnung und einer Arbeitsstelle. In Deutschland bietet der Dienst Flüchtlingen unter anderem Rechtsberatung an, unterstützt sie in Kirchenasyl und Abschiebehaft und engagiert sich in der Berliner Härtefallkommission.Frage: Welche Forderung haben Sie angesichts der aktuellen Entwicklung an die Politik?
Pflüger: Europa muss endlich aufhören, sich durch rücksichtslose Deals abzuschotten. Diese Abkommen zur so genannten Migrationskontrolle dienen nur dazu, uns in Europa die Flüchtlinge vom Hals zu halten. Die EU muss endlich sichere und legale Zugangswege ermöglichen. Dies würde nicht nur die Seenotrettung auf dem Mittelmeer überflüssig machen, sondern auch den Schleusern ihr Geschäft mit den Flüchtlingen entziehen.
Frage: Wie kann das konkret aussehen?
Pflüger: Eine erste Maßnahme wäre es, die gemeinsame europäische Seenotrettung mindestens auf den Umfang auszubauen, wie es Italien 2013 mit der Operation "Mare Nostrum" vorgemacht hat. Außerdem könnten Familienzusammenführungen, humanitäre Visa und großzügige Flüchtlingskontingente vielen Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer ersparen. Klar ist: Wenn 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, kann einer der reichsten und wirtschaftsstärksten Kontinente der Welt nicht einfach abseits stehen. Mit ihrer momentanen Abschottungspolitik verrät die EU doch alle ihre humanistischen und christlichen Werte. Oder, wie Papst Franziskus es vor einiger Zeit ausgedrückt hat: Europa verliert seine Seele.
Frage: Hat Europa seine Seele in dieser Hinsicht nicht längst verloren? Bis heute streiten die EU-Mitglieder über die Verteilung der Flüchtlinge in Europa; ein solidarisches Miteinander ist nicht absehbar...
Pflüger: In der Tat, auch wir vermissen die notwendige Solidarität innerhalb Europas. Zumal sich das geltende "Dublin-System", wonach ein Flüchtling in dem Staat, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betritt, Asyl beantragen muss, längst als ungerecht und völlig unbrauchbar erwiesen hat. Italien beispielsweise fühlt sich zu Recht von den anderen EU-Staaten im Stich gelassen. Wir brauchen dringend eine grundlegende und solidarische Reform des "Dublin-Systems".
Frage: Aber mit einer bloßen Änderung der Regeln in Europa ist es doch wohl nicht getan...
Pflüger: Da haben Sie völlig Recht! Seit Herbst 2015 versucht Europa panisch, Flucht und Migration aus Afrika zu unterbinden. Dabei wird der größte Teil der afrikanischen Flüchtlinge in Afrika selbst aufgenommen; allein in Ostafrika werden über vier Millionen Flüchtlinge und etwa sieben Millionen Binnenvertriebene beherbergt. Während Europa viel Geld für Abwehrmaßnahmen ausgibt, sind internationale Flüchtlingsprogramme für wichtige Aufnahmeländer wie Äthiopien, Kenia und Uganda dramatisch unterfinanziert. Wenn aber Flüchtlinge keine Sicherheit und Lebensperspektive in Afrika finden, sind sie gezwungen, ihren Weg Richtung Europa fortzusetzen. Von einem Land wie Uganda könnte Europa viel lernen. Es weist Flüchtlingen Ackerland zu, erteilt ihnen eine Arbeitserlaubnis und gibt ihnen so die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen. Damit hat Uganda eines der großzügigsten und nachhaltigsten Asylsysteme der Welt.
Frage: Noch einmal zurück zur aktuellen Frage der Seenotrettung. Müsste nicht auch die Kirche mit ihren Institutionen hier unmittelbarer selbst aktiv werden, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten? Konkret gefragt: Könnte der Jesuiten-Flüchtlingsdienst die entstandene Lücke bei der Seenotrettung kurzfristig schließen?
Pflüger: Dazu sehe ich uns derzeit nicht in der Lage – und die Hilfsorganisationen haben ja auch nachvollziehbare Gründe genannt, warum sie sich aus der Seenotrettung zurückgezogen haben. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist schon jetzt auf beiden Seiten des Mittelmeers aktiv und arbeitet dort direkt mit Menschen auf der Flucht zusammen. Darüber hinaus darf man nicht vergessen: Die mediale Aufmerksamkeit konzentriert sich zwar stark auf das Mittelmeer; das ist auch wichtig, weil dort Menschen unnötig sterben. Die Kirche und ihre Hilfsorganisationen sind aber noch an vielen anderen Orten aktiv, wo ebenfalls Menschen auf der Flucht sterben, wo es viele Medien in Europa aber sehr viel weniger interessiert: Auf den Fluchtwegen durch die Sahara etwa, oder bei den Flüchtlingen aus dem Südsudan, aus Somalia, dem Jemen oder Eritrea. Das sollte man trotz der Tragödie im Mittelmeer nicht aus dem Blick verlieren.