"Fest der Familie" mit "Jahresendflügelfigur"
Propaganda gegen Religion gehörte in der früheren DDR zur Staatsdoktrin. Das führte zu einigen sprachlichen Verrenkungen, gerade in der Weihnachtszeit. "Jahresendfiguren mit Flügeln" - als Umschreibung für Engel - war solch eine kurios anmutende Wortschöpfung. Deren Ursprung ist der Leipziger Journalist Constantin Hoffmann für ein Buch auf den Grund gegangen ("Weihnachten in der DDR. Frank Schöbel, Lauschaer Glasschmuck und Pulsnitzer Pfefferkuchen", Mitteldeutscher Verlag).
Hartnäckig hielt sich lange das Gerücht, es habe eine offizielle Anweisung von oben gegeben, Engel nicht beim Namen zu nennen. Tatsächlich sei die "Jahresendflügelfigur" aber eine Erfindung der DDR-Satirezeitschrift "Eulenspiegel". "Sie nahm damit die Sprache der Bürokraten aufs Korn", schreibt Hoffmann.
Engel mit abgeschnittenen Flügeln
Zur Herkunft des sonderbaren Wortes fragte Hoffmann unter anderem bei Helga Förster-Wendt nach. Sie war mit Hans Wendt verheiratet, der über vier Jahrzehnte die Firma Wendt & Kühn im sächsischen Grünhainichen führte. Seit mehr als 100 Jahren stellt das Traditionsunternehmen Holzkunst her, darunter die berühmten Engel mit elf weißen Punkten auf den grünen Flügeln.
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25 Jahre Deutsche Einheit: Journalist Markus Kremser wuchs in einer katholischen Familie in der DDR auf. Als bekennende und praktizierende Christen waren sie Staatsfeinde. Für katholisch.de erinnert er sich an die Wende - und die schwierige Zeit davor. (Artikel von Oktober 2015)"Wir haben nie eine Rechnung für 'Jahresendfiguren mit Flügeln' geschrieben", erinnert sich Helga Förster-Wendt. Gleichwohl waren religiöse Rituale und Bräuche im sozialistischen System nicht gern gesehen. Besonders überzeugte Anhänger sollen in vorauseilendem Gehorsam sogar zu ausgesprochen rabiaten Mitteln gegriffen haben. "Ich weiß, dass manche Leute die Flügel an den Figuren abgeschnitten haben", erzählt Förster-Wendt.
Autor Hoffmann stammt selbst aus dem Osten Deutschlands. 1956 geboren, wuchs er in einer Pfarrersfamilie auf. Der Glaube an Gott allerdings konnte hinderlich sein. "Wer in der DDR etwas werden wollte, trat besser aus der Kirche aus", sagt der Journalist, der als Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) arbeitet. Im Buch zitiert er Statistiken, wonach es in der DDR-Bevölkerung 1949 etwa 90 Prozent Christen gab. 40 Jahre später habe der Anteil kaum mehr als 30 Prozent betragen.
Umso mehr freute sich der Pfarrerssohn am Heiligen Abend über "rappelvolle Gotteshäuser", wie er sagt. Bei der Recherche für das Buch suchte Hoffmann unter anderem Antworten auf die Frage: Ein großes christliches Fest im sozialistisch-atheistischen Staat - wie ging das zusammen? Acht Interviewpartner gaben ihm Auskunft, schilderten teilweise sehr persönliche Erinnerungen und Erfahrungen.
Schlagersänger Frank Schöbel, dessen beliebte TV-Sendung "Weihnachten in Familie" auf den Heiligen Abend einstimmte, kommt ebenso zu Wort wie Kammersänger Peter Schreier oder Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann. Auch Hersteller typischer Weihnachtsartikel, etwa von Christbaumschmuck aus Lauscha in Thüringen, befragte Hoffmann. Der Trompeter Ludwig Güttler erinnert sich an Versuche, das Wort "Weihnachten" verschwinden zu lassen. "Es sollte 'Fest der Familie' heißen", gab er zu Protokoll. Als der Begriff "Jahresendflügelfigur" herumgeisterte, hätten Musiker gewitzelt: "Wir spielen jetzt das Jahresendoratorium von Bach."
Weihnachten war vielen DDR-Bürgern heilig
Die Genossen mussten jedenfalls einsehen, dass Weihnachten vielen Menschen heilig war. Dietmar Keller, zwischen 1984 und 1988 stellvertretender Kulturminister der DDR, resümierte unverblümt: "Bei aller geistigen Beschränktheit der Führung der DDR: sich gegen Weihnachten, gegen die Tradition zu stellen, da konnte sie nur verlieren." Der frühere SED-Funktionär beschrieb zugleich ein Phänomen, das die Mangelwirtschaft in der DDR hervorbrachte: Die Menschen halfen sich verstärkt untereinander, eben auch bei Engpässen vor Weihnachten. "Das ganze Land war eine große Tauschbörse."
Warenmangel förderte andererseits Erfindungsreichtum und Organisationstalent. Für Pfefferkuchen etwa wurden grüne kandierte Tomaten als Zitronatersatz verwendet. "Da war kaum ein Unterschied zu schmecken", meint die Geschäftsführerin der Pulsnitzer Lebkuchenfabrik, Ines Frenzel. Dazu passt das Fazit des Buchautors, die Menschen in der DDR hätten immer das Beste aus Weihnachten gemacht: "Mit reichlich gutem Essen in mollig warmen Wohnstuben."