Papst kritisiert Wirtschaftssystem und bittet um Vergebung für kirchliches Unrecht

Franziskus beklagt "neue Formen des Kolonialismus"

Veröffentlicht am 10.07.2015 um 08:51 Uhr – Lesedauer: 
Papstreise

Santa Cruz/Asuncion ‐ Papst Franziskus hat tiefgreifende Veränderungen des globalen Wirtschaftssystems verlangt. Er forderte gleiche Rechte für die Armen der Bevölkerung. Auch zum Verhalten der Kirche gegenüber den Ureinwohnern fand er selbstkritische Worte.

  • Teilen:

Zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem sagte er: "Die landlosen Bauern ertragen es nicht, die Arbeiter ertragen es nicht, die Gemeinschaften ertragen es nicht, die Völker ertragen es nicht - und ebenso wenig erträgt es die Erde."

Der Papst sprach von "neuen Formen des Kolonialismus". Die armen Länder würden von den Industrienationen zu "bloßen Rohstofflieferanten und Zulieferern kostengünstiger Arbeit" herabgewürdigt. Dies erzeuge eine Gewalt, "die weder mit polizeilichen noch mit militärischen oder geheimdienstlichen Mitteln aufgehalten werden" könne. Zu diesem "neuen Kolonialismus" zählte Franziskus auch einige "sogenannte Freihandelsabkommen". Auch das Auferlegen von Sparprogrammen gehe immer nur zu Lasten der Arbeiter und der Armen.

Bitte um Vergebung für kirchliches Unrecht

Von den Delegierten des Welttreffens wurde der Papst begeistert gefeiert. In der Tradition von Johannes Paul II. (1978-2005) bat Franziskus auch um Vergebung für das Unrecht, das katholische Missionare im Laufe der Geschichte der Urbevölkerung Lateinamerikas angetan hätten. Ein Papst, der von "Kolonialismus" rede, dürfe dies nicht vergessen, so Franziskus

Linktipp: "Die Schwächsten ziehen den Kürzeren"

Bei einer Messe unter freiem Himmel hat Papst Franziskus im bolivianischen Santa Cruz übertriebenen Konsumismus gegeißelt. Als Sakristei zur Vorbereitung auf den Gottesdienst war ihm ein recht ungewöhnlicher Ort zugewiesen worden.

"Ich sage Ihnen mit Bedauern: Im Namen Gottes sind viele und schwere Sünden gegen die Ureinwohner Amerikas begangen worden", betonte das Kirchenoberhaupt. Zugleich erinnerte er auch an die vielen mutigen, sanftmütigen und friedlichen Missionare Lateinamerikas.

"Die Schwächsten ziehen stets den Kürzeren"

Bei einer Messe mit mehr als einer Million Teilnehmern hatte der 78-Jährige am Vormittag vor einem grenzenlosen Konsumismus gewarnt. Es gebe eine Logik, die versuche, alles in "Konsumgüter" und "in Käufliches zu verwandeln". Die Schwächsten zögen so stets "den Kürzeren". Die kollektiven Erinnerungen und Erfahrungen eines Volkes dürften nicht über Bord geworfen werden. Wenn dieses Gedächtnis betäubt werde, seien Hoffnung und Freude in Gefahr; Vereinsamung und Traurigkeit seien die Folge.

Franziskus reist heute weiter nach Paraguay, der letzten Station seiner einwöchigen Südamerika-Reise. Zuvor besucht er im bolivianischen Santa Cruz die berüchtigte Gefangenensiedlung Palmasola. In Paraguay werden für das Wochenende teils heftige Regenfälle erwartet. Der Papst fährt am Sonntag auch in das Elendsviertel Banado Norte, das besonders von Überschwemmungen durch Starkregen betroffen ist. (stz/dpa/KNA)

Themenseite: Enzyklika "Laudato si"

Am 18. Juni 2015 wurde die Enzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus veröffentlicht. Sie beschäftigt sich vorrangig mit ökologischen Fragen. Katholisch.de hat alles Wichtige rund um das Schreiben zusammengestellt.

Dokumentation: Sozialpolitische Grundsatzrede von Papst Franziskus

Mit einem flammenden Appell zur Veränderung des Weltwirtschaftssystems und zur Ermutigung sozialer Basisbewegungen hat Papst Franziskus am Donnerstag (Ortszeit) am zweiten weltweiten "Kongress der Volksbewegungen" teilgenommen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Auszüge der Rede in der offiziellen vatikanischen Übersetzung:

(...) Sagen wir es ganz unerschrocken: Wir brauchen und wir wollen eine Veränderung. (...) Ich frage mich, ob wir fähig sind zu erkennen, dass diese zerstörerischen Wirklichkeiten einem System entsprechen, das sich über den ganzen Globus erstreckt. Erkennen wir, dass dieses System die Logik des Gewinns um jeden Preis durchgesetzt hat, ohne an die soziale Ausschließung oder die Zerstörung der Natur zu denken?

Ja, so ist es, ich beharre darauf, sagen wir es unerschrocken: Wir wollen eine Veränderung, eine wirkliche Veränderung, eine Veränderung der Strukturen. Dieses System ist nicht mehr hinzunehmen; die Campesinos ertragen es nicht, die Arbeiter ertragen es nicht, die Gemeinschaften ertragen es nicht, die Völker ertragen es nicht... Und ebenso wenig erträgt es die Erde.

(...) Bei den verschiedenen Begegnungen, auf den verschiedenen Reisen habe ich festgestellt, dass es in allen Völkern der Welt eine Erwartung gibt, eine starke Suche, ein Sehnen nach Veränderung. Selbst in dieser immer kleineren Minderheit, die glaubt, von diesem System zu profitieren, herrscht Unzufriedenheit und besonders Traurigkeit. Viele erhoffen einen Wandel, der sie von dieser individualistischen, versklavenden Traurigkeit befreit.

(...) Wenn das Kapital sich in einen Götzen verwandelt und die Optionen der Menschen bestimmt, wenn die Geldgier das ganze sozioökonomische System bevormundet, zerrüttet es die Gesellschaft, verwirft es den Menschen, macht ihn zum Sklaven, zerstört die Brüderlichkeit unter den Menschen, bringt Völker gegeneinander auf und gefährdet - wie wir sehen - dieses unser gemeinsames Haus.

(...) Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Sie sind Aussäer von Veränderung. Hier in Bolivien habe ich einen Ausdruck gehört, der mir sehr gefällt: "Wandlungsprozess". Die Veränderung, nicht verstanden als etwas, das eines Tages eintreffen wird, weil diese oder jene politische Option sich durchgesetzt hat oder weil diese oder jene soziale Struktur errichtet wurde. Wir haben die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass ein Wandel der Strukturen, der nicht mit einer aufrichtigen Umkehr des Verhaltens und des Herzens einhergeht, darauf hinausläuft, früher oder später zu verbürokratisieren, zu verderben und unterzugehen.

(...) Die Kirche kann und darf in ihrer Verkündigung des Evangeliums diesem Prozess nicht fernstehen. Viele Priester und Pastoralarbeiter erfüllen eine gewaltige Aufgabe der Begleitung und Förderung der Ausgeschlossenen in aller Welt, indem sie - gemeinsam mit Genossenschaften - Unternehmen vorantreiben, Wohnungen bauen und hingebungsvoll in den Bereichen des Gesundheitswesens, des Sports und des Erziehungswesens arbeiten. Ich bin überzeugt, dass die respektvolle Zusammenarbeit mit den Volksbewegungen diese Bemühungen stärken und die Wandlungsprozesse unterstützen kann.

(...) Ich möchte drei große Aufgaben vorschlagen, die den entscheidenden Beitrag der Gesamtheit der Volksbewegungen erfordern: Die erste Aufgabe ist, die Wirtschaft in den Dienst der Völker zu stellen: Die Menschen und die Natur dürfen nicht im Dienst des Geldes stehen. Wir sagen Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der sozialen Ungerechtigkeit, wo das Geld regiert, anstatt zu dienen. Diese Wirtschaft tötet. Diese Wirtschaft schließt aus. Diese Wirtschaft zerstört die Mutter Erde.

(...) Eine gerechte Wirtschaft muss die Bedingungen dafür schaffen, dass jeder Mensch eine Kindheit ohne Entbehrungen genießen, während der Jugend seine Talente entfalten, in den Jahren der Aktivität einer rechtlich gesicherten Arbeit nachgehen und im Alter zu einer würdigen Rente gelangen kann. Es ist eine Wirtschaft, in der der Mensch im Einklang mit der Natur das gesamte System von Produktion und Distribution so gestaltet, dass die Fähigkeiten und die Bedürfnisse jedes Einzelnen einen angemessenen Rahmen im Gemeinwesen finden. Sie - und auch andere Volksgruppen - fassen diese Sehnsucht auf einfache und schöne Weise in dem Ausdruck "gut leben" zusammen.

(...) Die zweite Aufgabe ist, unsere Völker auf dem Weg des Friedens und der Gerechtigkeit zu vereinen. (...) Die Völker Lateinamerikas haben ihre politische Unabhängigkeit unter Schmerzen geboren und seitdem fast zwei Jahrhunderte einer dramatischen Geschichte voller Widersprüche erlebt, in dem Versuch, die volle Unabhängigkeit zu erlangen. Nach viel Entfremdung konnten in diesen vergangenen Jahren zahlreiche lateinamerikanische Länder eine Zunahme an Geschwisterlichkeit unter ihren Völkern beobachten. Die Regierungen der Region haben ihre Kräfte vereint, um dafür zu sorgen, dass ihre Souveränität respektiert wird, und zwar die eines jeden Landes und die der Region im Ganzen, die sie - wie einst unsere Väter - mit dem schönen Namen die "Große Heimat" bezeichnen.

Ich bitte Sie, liebe Brüder und Schwestern aus den Volksbewegungen, diese Einheit zu hüten und auszubauen. Angesichts aller Spaltungsversuche ist es notwendig, die Einheit zu bewahren, damit die Region in Frieden und Gerechtigkeit wächst.  Trotz dieser Fortschritte gibt es immer noch Faktoren, die diese gerechte menschliche Entwicklung untergraben und die Souveränität der Länder der "Großen Heimat" und anderer Regionen einschränken. Der neue Kolonialismus nimmt verschiedene Gestalten an. Manchmal ist es die anonyme Macht des Götzen Geld: Körperschaften, Kreditvermittler, einige sogenannte "Freihandelsabkommen" und die Auferlegung von "Sparmaßnahmen", die immer den Gürtel der Arbeiter und der Armen enger schnallen.

(...) Der neue wie der alte Kolonialismus, der die armen Länder zu bloßen Rohstofflieferanten und Zulieferern kostengünstiger Arbeit herabwürdigt, erzeugt Gewalt, Elend, Zwangsmigrationen und all die Übel, die wir vor Augen haben... und zwar aus dem einfachen Grund, weil er dadurch, dass er die Peripherie vom Zentrum abhängig macht, ihr das Recht auf eine ganzheitliche Entwicklung verweigert. Das ist soziale Ungerechtigkeit, und die erzeugt eine Gewalt, die weder mit polizeilichen noch mit militärischen oder geheimdienstlichen Mitteln aufgehalten werden kann. Wir sagen Nein zu den alten und neuen Formen der Kolonialisierung. Wir sagen Ja zur Begegnung von Völkern und Kulturen. Selig, die für den Frieden arbeiten.

Und hier möchte ich bei einem wichtigen Thema innehalten. Es könnte nämlich jemand mit Recht sagen: Wenn der Papst von Kolonialismus redet, vergisst er gewisse Handlungen der Kirche. Ich sage Ihnen mit Bedauern: Im Namen Gottes sind viele und schwere Sünden gegen die Ureinwohner Amerikas begangen worden. Das haben meine Vorgänger eingestanden, das hat der CELAM gesagt, und auch ich möchte es sagen. Wie Johannes Paul II. bitte ich, dass die Kirche «vor Gott niederkniet und von ihm Vergebung für die Sünden ihrer Kinder aus Vergangenheit und Gegenwart erfleht». (...) Ich bitte demütig um Vergebung, nicht nur für die von der eigenen Kirche begangenen Sünden, sondern für die Verbrechen gegen die Urbevölkerungen während der sogenannten Eroberung Amerikas.

Desgleichen bitte ich Sie alle - Gläubige und Nichtgläubige -, sich an die vielen Bischöfe, Priester und Laien zu erinnern, welche die Frohe Botschaft Jesu mutig und sanftmütig, respektvoll und friedlich verkündet haben und verkünden; die auf ihrem Weg durch dieses Leben bewegende Werke der menschlichen Förderung und der Liebe hinterlassen haben, oft gemeinsam mit den einheimischen Bevölkerungen oder indem sie deren Volksbewegungen begleiteten, sogar bis zum Martyrium. Die Kirche, ihre Söhne und Töchter, sind ein Teil der Identität der Völker Lateinamerikas (...).

(...) Die dritte, vielleicht wichtigste Aufgabe, die wir übernehmen müssen, ist die Verteidigung der Mutter Erde. Unser aller gemeinsames Haus wird ungestraft ausgeplündert, verwüstet und misshandelt. Die Feigheit bei ihrer Verteidigung ist eine schwere Sünde. Mit zunehmender Enttäuschung sehen wir, wie ein internationales Gipfeltreffen dem anderen folgt ohne irgendein bedeutendes Ergebnis.

Es gibt ein klares, definitives und unaufschiebbares ethisches Gebot zu handeln, das nicht befolgt wird. Man darf nicht zulassen, dass gewisse Interessen - die globalen aber nicht universalen Charakters sind - sich durchsetzen, die Staaten und die internationalen Organisationen unterwerfen und fortfahren, die Schöpfung zu zerstören. Die Völker und ihre Bewegungen sind berufen, ihre Stimme zu erheben, sich zu mobilisieren und friedlich, aber hartnäckig zu fordern, dass unverzüglich geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Ich bitte Sie im Namen Gottes, die Mutter Erde zu verteidigen. (...)