Gegen das schwarze Ungetüm
Hermann Bunse kennt diese Angst. Der 62-Jährige arbeitet seit 23 Jahren als Gefängnisseelsorger. "Ein Knast ist immer kafkaesk. Diese Menschen leben in Angst-Räumen", erzählt er. Als er zum ersten Mal im Gefängnis war, hatte er selbst Angst. Das merkten die Insassen. Sie rauchten in seinem Gottesdienst. "Ich hatte Albträume danach", sagt Bunse. Dann überwand er die Angst. Er gewöhnte sich daran, hinter den Gittern Menschen zu treffen, die geraubt und gemordet haben. Oder zur Feier einer Frau eingeladen zu werden, die ihren sechsten Mann mit einer Axt erschlagen hatte - und dann in der Gefangenschaft Nummer sieben heiratete.
„Gesetzt der Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: Wie erklären Sie sich, dass es dazu nie gekommen ist?“
"Das ist die Welt. Die muss ich an mich heranlassen", wurde Bunse klar. Ebenso wurde ihm klar, dass auch die Gesellschaft diese Welt an sich heranlassen muss. Es sei ein Irrtum zu denken, man könne "das Böse" hinter Gittern verschließen, denn dann setze man sich nicht mit den eigenen Abgründen auseinander. "Gesetzt der Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: Wie erklären Sie sich, dass es dazu nie gekommen ist?", zitiert der Seelsorger den Schriftsteller Max Frisch. Für Bunse ist das Gefängnis ein Spiegel der Gesellschaft, deren Abschottung am Ende nur zu Überheblichkeit führe.
Brücke vom Gefängnis in die Welt
Die Gelegenheit, eine Brücke vom Gefängnis in die Welt nach draußen zu schlagen, bot sich Bunse im Jahr 2000. Damals machten es umfangreiche Renovierungsarbeiten in der wenige Straßen entfernt gelegenen Heilig Geist-Kirche der Jesuiten unmöglich, die traditionelle Krippe aufzubauen. Die mannshohen Figuren verschwanden für Jahre in Kisten. Bunse war zu dieser Zeit auch für die Citypastoral verantwortlich. Zusammen mit einer Gruppe von Gemeindemitgliedern begann er, aus einfachen Materialien unterarmgroße Figuren für eine Übergangskrippe anzufertigen. Man übernahm den kommunalen Slogan "Stadt am Fluss" und wandelte ihn in "Krippe am Fluss". Auf der Suche nach weiteren Helfern, die Zeit und neue Ideen mitbrächten, fiel Bunse das Untersuchungsgefängnis, im Volksmund "Fauler Pelz" genannt, ein.
Linktipp: Weihnachten. Gott wird Mensch
"Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude": So beginnt der Bericht des Evangelisten Lukas über die Geburt Jesu, die Christen alljährlich am 25. Dezember feiern. Das Dossier informiert über die Bedeutung von Weihnachten, bekannte Bräuche sowie spannende Hintergründe rund um das Fest.Denn die Häftlinge haben viel Zeit, die sie als bleierne Last oder nutzlose Leere empfinden. Ihre Motivation ist dementsprechend immer hoch. "Wenn Sie den Knast besuchen, werden Sie aufgesogen wie ein Schwamm und können sich kaum losreißen", so Bunse. Er kommt mit den "armen Materialien, die nichts kosten dürfen" zu den Insassen: Papier, Draht, Kleister und Farben. "Kreatives Arbeiten im Knast ist unerschöpflich gut", schwärmt der gelernte Schauwerbegestalter. Statt Schaufenster zu dekorieren, stellt er seine kreative Ader heute in den Dienst der Verkündigung.
An die Krippe tritt, was aktuell ist
Gebastelt wird in einem Flur, der auch als Gottesdienststätte und Gemeinschaftsraum dient. Jedes Jahr ab Oktober überlegt sich eine Gruppe von Interessierten gemeinsam mit dem Gefängnisseelsorger, welche Figuren für dieses Weihnachten neu modelliert werden könnten. Dabei tritt an die Krippe, was gerade aktuell ist und die Menschen bewegt: 2014 war es die Deutsche Fußballnationalmannschaft, 2013 Papst Franziskus. 2015 werden es Flüchtlinge sein, die in den Fluten des Wassers ertrinken.
Oft stecken in den Gefangenen ungeahnte Talente, die plötzlich beim Kleistern, Malen und Schneidern freigesetzt werden, weiß Bunse aus Erfahrung. Am Anfang beäugten die Gefängniswärter sein Vorhaben dennoch kritisch. Denn aus Papier und Draht lassen sich auch Waffen basteln. Doch als nichts passierte, ließ ihre Angst nach. "Man darf nicht vergessen, dass die Beamten ihr ganzes Leben im Gefängnis verbringen – das ist mehr als das in Deutschland übliche 'lebenslänglich' von 15 Jahren", erinnert Bunse. Angst und Zweifel am Menschen seien bei ihnen deshalb nicht verwunderlich.
Auch Gerhard Mertens* kennt Angst und Zweifel. "Am schlimmsten sind die Zweifel an mir selbst", sagt der 49-Jährige. Vor vielen Jahren hat er seine damalige Lebensgefährtin umgebracht. "Es war Eifersucht. Eine Beziehungstat. Ich habe sie so lange auf den Kopf geschlagen, bis sie tot war", bekennt Mertens leise. Er kam in Untersuchungshaft nach Heidelberg. Alles brach zusammen, vor allem sein Selbstbild. "Als ich eingesperrt war, konnte ich mich anfangs kaum daran gewöhnen. Viel zu viele Emotionen stürzten auf mich ein", fährt er fort. Er habe an Suizid gedacht, um der Angst und den Zweifeln zu entrinnen.
Mertens: Die Schuld bleibt immer
Da kam Hermann Bunse mit seinem neuen Krippenprojekt gerade rechtzeitig. "Er hat mich gerettet. Ohne ihn hätte ich diese Zeit nicht überstanden", ist sich Mertens sicher. Er erinnert sich an die Figur, die er gebastelt hat: "Es war ein Engel." Vor zwei Jahren hat er seine lebenslängliche Haftstrafe abgesessen. Langsam findet er wieder in ein normales Leben zurück. Doch er träumt noch oft von der Haft, so wie er im Gefängnis häufig von der Freiheit träumte.
Mit dem Gefängnisseelsorger verbindet ihn heute eine Freundschaft, in der sie auch über den Glauben sprechen. Und über Schuld. "Die Schuldgefühle bleiben immer", erklärt Mertens. "Wenn man eine Bank ausgeraubt hat, dann kann man sich vielleicht irgendwann denken 'Die Schuld ist verbüßt'. Doch wer ein Menschenleben auf dem Gewissen hat, muss das sein ganzes Leben mit sich herumtragen." Bunse würde seinen Freund gerne davon überzeugen, dass die Schuld abgebüßt ist. Mertens kann sich das aber nicht vorstellen. Zumal der getaufte Katholik auch mit Kirche und damit kirchlichen Möglichkeiten der Vergebung nicht viel anfangen kann.
Linktipp: Jesus Christus
Für alle Christen, gleich welcher Konfession, ist Jesus der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist, um allen Menschen Gottes Heil zu bringen. Dieses Glaubensbekenntnis ist uralt; aber es ist auch ewig neu, weil es immer wieder vor die Frage stellt: Wer war Jesus? Und wer ist er für mich?Da, wo Worte nicht mehr ausreichen, spricht die Krippe am Fluss in Bildern von der Rettung des Menschen durch Gott. Angst und Zweifel der Menschen sollen hier aufgenommen werden, erklärt Bunse. So sitzt in Form eines schwarzen Ungetüms auch die Angst am Stall von Bethlehem. "Als Antwort auf die menschlichen Zweifel erzählt unsere Krippe die Geschichte Gottes mit den Menschen von ihrem Ursprung", sagt der Seelsorger. Deshalb beginne die Erzählung bei Adam und Eva. Sie reicht über Sintflut, Befreiung aus Ägypten und die Zeit der Könige in Israel bis zu den Propheten. "Höhepunkt und Herz dieser Geschichte ist Gottes Menschwerdung in Jesus Christus", so Bunse. Tatsächlich – wenn auch fast unscheinbar - stehen Maria und Josef mit dem Kind im Zentrum des Geschehens.
Gott liebt jeden Menschen ohne Ende
Hinter der Heiligen Familie treffen zwei Brücken aufeinander. "Die Brücke ist ein Zeichen des Hinübergehens. Gott wird Mensch. Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits berühren sich", schreibt Bunse in seinem Buch über das Krippenprojekt. Um Maria, Josef und das Kind versammeln sich auf mehreren Quadratmetern weitere Figuren aller Art: Obdachlose, Junkies mit ausgemergelten Gesichtern, Prostituierte in schrillen Kostümen und Aidskranke mit roten Schleifen stehen vor und auf den Brücken. Aber auch demonstrierende Studenten, ein raffgieriger Banker, die personifizierte Unmut, Mahmut Abbas und Benjamin Netanjahu. "Zu politisch", lautete irgendwann der Vorwurf – wegen der Stuttgart 21-Gegner an der Krippe. Aber Bunse erläutert: "Die Nachricht ist viel einfacher: Heute und nicht gestern ist der Messias, der Retter der Menschheit geboren. Und er wird eben in diese Welt hineingeboren, in das aktuelle Geschehen, in die Sorgen, Ängste und Nöte der Menschen." Die Figuren zeugten von der Erfahrung, dass Gott seine Schöpfung und damit jeden einzelnen Menschen ohne Ende liebt. Um dem Betrachter diese Botschaft nahezubringen, bilden Heidelberger Häuserfassaden die Kulisse, vor der sich die Menschwerdung Gottes vollzieht.
Auch ein Miniaturgefängnis steht an der "Krippe am Fluss". Gefangene strecken ihre Arme zwischen Gitterstäben hervor. Eine Hand hält eine kleine weiße Fahne, auf der geschrieben steht "Jeremy. Es liebt dich deine Mama". Eine Frau drückt dem Sohn, für den sie nicht da sein kann, ihre Liebe aus, bittet ihn um Vergebung. – Das Untersuchungsgefängnis in Heidelberg ist vor wenigen Wochen aus Kostengründen aufgelöst worden. Die weihnachtliche Botschaft der Krippe bleibt: Gott überwindet alle menschlichen Unzulänglichkeiten. Er kommt in diese Welt und damit in die tiefsten menschlichen Abgründe. Allen Menschen, jedem einzelnen, teilt er seine vollkommene Liebe mit. Gegen Dunkelheit, Zweifel und Angst.
* Name von der Redaktion geändert