"Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei"
Deutschland ist ein reiches Land. Es gehört zu den größten Volkswirtschaften Europas. Und doch gibt es immer mehr Deutsche, die von Armut betroffen sind. Lag die Armutsquote laut Mikrozensus 2010 noch bei 14,5 Prozent, stieg die Zahl 2014 auf 15,4 Prozent – und das trotz eines eigentlich guten Wirtschaftsjahres. In nackten Zahlen gesprochen, kommen hierzulande über 12,5 Millionen Menschen mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Geld nur schwer oder gar nicht über die Runden.
Armut ist auch ein Problem der Kirche
Das ist ein gesellschaftliches Problem – und damit auch eines der Kirche. Aus diesem Grund haben die deutschen Bischöfe ihren Studientag während der Vollversammlung in Fulda diesem komplexen Thema unter einem ebenso komplexen Titel gewidmet: "Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei – Armut und Ausgrenzung als Herausforderung für die Kirche und ihre Caritas". Der Titel stammt aus der Enzyklika "Evangelii Gaudium", die von Papst Benedikt XVI. begonnen und seinem Nachfolger Franziskus beendet wurde.
Natürlich habe man das Thema auch mit Blick auf die Forderung des Papstes gewählt, verstärkt an die Ränder zu gehen, sagte der scheidende Vorsitzende der Kommission für caritative Fragen, Kardinal Rainer Maria Woelki. Es sei jedoch unstrittig, dass die katholische Kirche in Deutschland auch zuvor sehr viel für Arme getan hat. "Das könnte man in Heller und Pfennig belegen." Als Beispiele nannte Woelki den Deutschen Caritasverband, aber auch die zahlreichen Hilfswerke, die sich weltweit dort einsetzten, wo die Not am größten sei.
Die Caritas hat bundesweit über 25.000 Einrichtungen mit rund 590.000 Mitarbeitern: Sie arbeiten in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in der Schwangerschafts- oder Familienberatung. Darüber hinaus kümmern sie sich um Arbeitslose, Aids- und Suchtkranke, Wohnungslose, Strafgefangene, Menschen mit Behinderung oder auch Migranten. Insgesamt nutzen rund zwölf Millionen Menschen im Jahr ihre Dienste.
Das Ziel des Studientags sei es aber nicht, die Armen als Empfänger und sich selbst als wohltätig zu sehen, erklärte Woelki weiter. Man sei ja kein "Charity-Verein", sondern der Zusammenschluss von Bischöfen, die beim Empfang ihrer Bischofsweihe versprochen hätten, den Armen, Heimatlosen und Notleidenden wirklich zu helfen. Und auch wenn sie viel über Armut, über ihre Ursachen und über ihre Bekämpfung wüssten, müsse man sich selbstkritisch fragen: "Was haben wir mit Armen wirklich zu tun?"
Alleinerziehende und kinderreiche Familien gefährdet
Als arm gelten laut einer Definition der EU Menschen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen. In Deutschland werden demnach Alleinstehende mit einem Einkommen von weniger als 892 Euro pro Monat als arm bewertet. Bei einer Familie mit zwei Kindern liegt die Grenze bei 1.872 Euro. Besonders hoch ist das Armutsrisiko bei Alleinerziehenden, bei Familien mit mehr als drei Kindern und vermehrt auch bei Rentnern, deren Quote mit 15,6 Prozent erstmals über dem Durchschnitt liegt.
Caritas-Präsident: Hartz-IV-Erhöhung ist ein Hohn
Die Bundesregierung will die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger anheben. Für Caritas-Präsident Peter Neher ist die Reform ungenügend. Am Rande der DBK-Vollversammlung machte er seinem Ärger Luft.Klar ist aber auch: Wer in Deutschland als arm gilt, muss nicht unbedingt hungern. "Dennoch", so betont der Kardinal, "wer arm ist und nur als Hilfsempfänger abgetan wird, mit dem niemand etwas zu tun haben will, bleibt vor allem eins: ausgeschlossen." Ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe oder von Bildung. Der Kardinal nannte das Beispiel der alleinerziehenden Mutter mit zwei oder drei Jobs, deren Kind dennoch weder vernünftige Kleidung hat noch am Schulausflug teilnehmen kann.
Das, was Woelki da beschrieb, bestätigte der Kasseler Makrosoziologe Heinz Bude. Er verwies auf Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bayern, in denen praktisch Vollbeschäftigung herrscht und es dennoch Armut gibt. "Armut trotz Arbeit", fasste er das Phänomen kurz zusammen. Deutschlandweit seien davon etwa 12 bis 14 Prozent der Berufstätigen betroffen.
Doch wie soll man mit diesen Entwicklungen umgehen? Caritas-Präsident Peter Neher sieht Armut und Ausgrenzung als "die zentralen Herausforderungen unserer Zeit". Er verwies darauf, dass Arbeitslose das höchste Armutsrisiko haben. Hier setzten viele Caritas-Initiativen an, um zu verhindern, dass Langzeitarbeitslose abgeschrieben würden, so Neher. Darüber hinaus müsse die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem erhöht und das Grundsicherungssystem ausgebaut werden. Der Caritas-Präsident forderte unter anderem, dass der Regelbedarf für Alleinstehende um rund 60 Euro pro Monat erhöht wird. Das Budget der Empfänger von Hartz IV und Grundsicherung im Alter sei selbst dann noch knapp, biete aber etwas mehr Spielraum und reduziere den Stress.
Gleichzeitig trat Neher Befürchtungen entgegen, dass die Flüchtlingskrise Auswirkungen auf die staatliche Unterstützung für Arme und Obdachlose haben könnte. "Das wird nicht passieren." Anders sehe es allerdings bei Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich und bei der Suche nach Wohnungen aus. Da könne es durchaus zu einer "Konkurrenzsituation" kommen, erklärte Neher. In diesem Fall sei es die Aufgabe der Politik zu verhindern, "dass es einen Verdrängungswettbewerb gibt". Neher betonte jedoch, dass die Wohnungsknappheit schon vor den Flüchtlingen ein Problem gewesen und nicht durch diese ausgelöst worden sei.
Woelki: Katholische Schulen müssen länger öffnen
Kardinal Woelki verwies in diesem Zusammenhang auf Versuche seines Erzbistums, integrative Wohnprojekte zu fördern, um etwa auch dem Problem der Ghettobildung vorzubeugen. Mit Blick auf den Bildungssektor gab er zu, dass die Kirche bisher häufig zu mittelschichtsorientiert gearbeitet habe. Statt sich auf Realschulen und Gymnasien zu fokussieren, wolle man mit künftig mit neuen Schulprojekten auch "in die prekären Verhältnisse gehen", sagte der Kölner Erzbischof. Kritisch überprüfen wolle man auch die Öffnungszeiten der eigenen Bildungshäuser. "Eventuell müssen die bis 20 oder sogar 21 Uhr offen bleiben, damit Frauen vernünftig ihrer Arbeit nachgehen können."