Reaktionen aus Kirche und Politik auf die ertrunkenen Flüchtlinge

"Größtes Massengrab Europas"

Veröffentlicht am 20.04.2015 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Flüchtlinge

Bonn ‐ Eine Katastrophe spielt sich ab vor den Toren Europas: Erneut sind am Wochenende Hunderte Menschen ertrunken, als sie versuchten, mit Booten das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Am Montag meldeten sich Vertreter von Kirche, Politik und Gesellschaft mit der einhelligen Botschaft zu Wort, solche Tragödien zukünftig unbedingt verhindern zu wollen. Immer häufiger wird zudem die Wiedereinführung der italienischen Rettungsoperation "Mare Nostrum" gefordert.

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"Über das erneute Bootsunglück sind wir zutiefst erschüttert. Allein in der vergangenen Woche sind über 1000 Menschen bei ihrem verzweifelten Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken", erklärten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, am Montag in einer gemeinsamen Erklärung. Ein entschlossene Kampf gegen gewissenlose Schleuser sei deshalb ebenso notwendig wie eine Seenotrettungsmission in europäischer Verantwortung. Gleichzeitig kritisierten die Bischöfe die Frontex-Mission "Triton", deren Hauptzweck nicht die Rettung Schiffbrüchiger, sondern der Grenzschutz sei.

Schick: Bis an die afrikanischen Küsten operieren

Auch "Weltkirche"-Bischof Ludwig Schick hat sich für eine verbesserte und gesamteuropäische Neuauflage von "Mare Nostrum" stark gemacht. Das Seenotrettungsprogramm der italienischen Marine war im vergangenen Herbst beendet worden. Es solle "keine Abschreckflotte, sondern Hilfs- und Rettungstruppe" sein, sagte der Bamberger Erzbischof am Montag. Eine solche "Meereswache" müsse bis an die afrikanischen Küsten operieren, um Flüchtlinge aus den Booten zu retten und sie nach Europa zu bringen.

Erzbischof Ludwig Schick
Bild: ©weltkirche.katholisch.de

Erzbistum Bamberg: Ludwig Schick (seit 2002)

In der Nacht zum Sonntag war vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsboot gekentert. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR waren rund 700 Menschen an Bord, von denen 28 gerettet werden konnten. Ein Überlebender berichtete gegenüber Medien von 950 Bootsinsassen, darunter 50 Kinder. Laut der International Organisation for Migration (IOM) sind seit Jahresbeginn im Mittelmeer 1.500 Menschen ertrunken. Zum selben Zeitpunkt im Vorjahr waren es demnach 108.

Europa brauche zudem eine klare Einwanderungspolitik, betonte Schick. Es müsse welt weit kommuniziert werden, wer nach Europa einwandern könne und wer nicht. Ebenso klar müssten die Integrationsbedingungen sein. Außerdem forderte Schick eine bessere Entwicklungshilfe. "Solange es Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, keine Perspektiven, vor allem in Afrika gibt, werden die Flüchtlingsströme nicht abreißen." Einwanderungs- und Entwicklungspolitik müssten Hand in Hand gehen, um Flüchtlingskatastrophen langfristig zu beenden, so der Erzbischof.

Bischof Trelle ist traurig und zornig

"Mit Trauer und Zorn nehme ich wahr, dass das Mittelmeer zum größten Massengrab Europas geworden ist", sagte der Vorsitzende der Migrations-Kommission, Bischof Norbert Trelle, am Montag in Hildesheim. Die "entsetzlich große Anzahl" der Toten müsse den europäischen Staaten eine Mahnung sein, sich gemeinsam des Schicksals der Flüchtlinge anzunehmen.

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Bild: ©KNA

Der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle (Hildesheim), spricht während einer Reise in ein Flüchtlingscamp nach Jordanien mit Kindern einer Schule am Zaun.

Der Bischof von Münster, Felix Genn, zeigte sich schockiert ob der neuerlichen Todesmeldungen. "Im Mittelmeer sind in der vergangenen Woche vermutlich weit über 1.000 Frauen, Männer und Kinder, die nichts anderes als leben wollten, jämmerlich ertrunken. Wie lange wollen wir Europäer hier tatenlos zusehen?" Als Christ sei man aufgefordert, die Stimme gegen derartiges Unrecht zu erheben. Der Politik müsse man zugleich die Bereitschaft zeigen, vom eigenen Wohlstand abzugeben, um das Leben anderer zu retten. Ein erster, leichter Schritt sei nach Genn die Wiedereinsetzung der Aktion "Mare Nostrum".

"Humanitäres Visum" für Kriegsflüchtlinge

Auch Vertreter der deutschen und europäischen Politik äußerten sich zu den Schreckensmeldungen vom Wochenende. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), sprach sich ebenfalls für eine Ausweitung der Seenotrettung aus. In einem Gespräch mit dem Sender WDR 5 schlug Strässer außerdem vor, ein "humanitäres Visum" für Bürgerkriegsflüchtlinge einzuführen. Dadurch hätten diese Menschen einen legalen Zugang zu einem europäischen Staat ohne die Gefahren einer illegalen Einreise, sagte Strässer.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sieht keine schnelle Lösung für die Bewältigung des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer. Notwendig sei jedoch eine "offene Diskussion ohne Tabus darüber, was Politik, was europäische Union, in diesen Zeiten ausrichten kann". Wichtig sei es, die Seenotrettung zu verbessern und zugleich den Blick auf die Transit- und Herkunftsländer der Flüchtlinge zu richten.

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt kündigte an, in der Asylpolitik den Druck auf Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) zu erhöhen. De Maiziere hatte am Sonntag die EU-Kommission in die Pflicht genommen. Er setze bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms auf eine europäische Antwort, so der Minister. Ein Schwerpunkt müsse dabei auf dem Kampf gegen Schlepperbanden liegen.

Legale Fluchtwege notwendig

"Das Desaster zeigt, wie dringend eine robuste Seerettungsoperation ist", sagte UN-Flüchtlingskommissar António Guterres. Die Europäer müssten sich aber auch auf ein umfassendes Herangehen verständigen, mit dem "die tieferen Ursachen angegangen werden, die so viele Menschen in die Flucht und ein derart tragisches Ende treiben". Nötig seien zudem legale Fluchtwege und "humanitäre Visa".

Nach den Worten des Volkswirtschaftlers Michael Bohnet wird der Umgang mit Flüchtlingen ungeachtet der aktuellen Katastrophe eines der zentralen Themen der Entwicklungspolitik bleiben. Aktuell gebe es 40 Länder, die zur Gruppe der fragilen und von bewaffneten Konflikten betroffenen Staaten zählen, sagte Bohnet. Dort lebten derzeit 1,5 Milliarden Menschen. Im Jahr 2075 werde in diesen Ländern aller Voraussicht nach die Masse der Armen wohnen. Und es bestehe die Gefahr, dass weitere Staaten hinzu kämen. "Hier muss die Weltgemeinschaft dringend neue Konzepte entwickeln", so Bohnet, der als Chefunterhändler des Entwicklungsministeriums die meisten großen UN-Konferenzen der 90er-Jahre begleitete. (kim/bod/KNA/dpa)

Chronologie

Seit Jahren kommen im Mittelmeer immer wieder Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa ums Leben. Wie viele Opfer es bereits gegeben hat, weiß niemand genau. April 2015: Vor der libyschen Küste kentert ein voll besetztes Flüchtlingsboot. Zunächst können nur 28 Menschen gerettet werden, die italienischen Behörden befürchten Hunderte Tote. Nach Angaben eines Überlebenden sollen 950 Menschen an Bord gewesen sein. Erst wenige Tage zuvor waren nach Berichten von Überlebenden 400 Menschen nach einem Unglück vermisst worden. Februar 2015: Vor der italienischen Insel Lampedusa kommen möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge ums Leben. Mindestens 29 von ihnen sterben während der Überfahrt von Libyen nach Italien in kaum seetüchtigen Schlauchbooten an Unterkühlung. September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit angeblich mehr als 500 Migranten im Mittelmeer untergeht. Überlebende berichten, dass Menschenschmuggler das Schiff mit Syrern, Ägyptern, Palästinensern und Sudanesen auf dem Weg nach Malta versenkt hätten. Juli 2014: Bei einer Flüchtlingstragödie vor Libyens Küste ertrinken mindestens 150 Menschen. Die libysche Küstenwache findet Leichen und Wrackteile eines Schiffes vor der Stadt Khums. Oktober 2013: Mindestens 366 Flüchtlinge ertrinken bei Lampedusa. Ihr Boot fängt Feuer und kentert. Die Küstenwache kann 155 Menschen in Sicherheit bringen. Sie stammen überwiegend aus Somalia und Eritrea. Juni 2012: 54 Flüchtlinge sterben, als sie bei starken Winden in einem Schlauchboot von Libyen aus Italien erreichen wollen. Ein Mann aus Eritrea überlebt. August 2011: Ein Boot erreicht mit 270 überlebenden Afrikanern Lampedusa. Unter Deck liegen die Leichen von 25 Männern, die vermutlich an Abgasen erstickt sind. 100 Tote seien zudem über Bord geworfen worden, sagt ein Überlebender. Juni 2011: Vor der Küste Tunesiens gerät ein Boot mit Flüchtlingen aus Afrika und Asien auf dem Weg nach Italien in Seenot. Nur wenige können gerettet werden; bis zu 270 Menschen bleiben verschollen. (dpa)