"Hier wird nicht missioniert"
Frage: Frau Ackerschott, warum liegen Ihnen drogenabhängige Menschen so sehr am Herzen?
Bärbel Ackerschott: Ich mag sie einfach. Immer wenn ich in meinem Leben drogenabhängigen Menschen begegnet bin, war mir klar, das ist meine Aufgabe, für die da zu sein. Und dann kamen die Ordensbrüder der Spiritaner auf mich zu und haben mich gefragt, ob ich eine Idee für ihr Parterre im ehemaligen Provinzialat in der Victoriastraße in Köln habe. Ich war davor in der AIDS-Hilfe tätig und in der Justizvollzugsanstalt in Köln und wir hatten immer das Problem, Drogenabhängige unterzubringen. Es gab einfach nichts, um ihnen in ihrem täglichen Überlebenskampf beizustehen. So ist schnell die Idee entstanden, eine Notschlafstelle für obdachlose Drogenabhängige einzurichten. Heute sind im so genannten "Notel“ acht hauptamtliche Sozialarbeiter, etwa 15 ehrenamtliche Hilfskräfte und 10 Studenten auf Minijobbasis für die Drogenabhängigen da.
Frage: Hat die Notschlafstelle tagsüber geöffnet?
Ackerschott: Nein, wir sind kein Tagesangebot, sondern eine Notschlafstelle. Ab 20 Uhr sind wir für unsere Gäste da. Dazu gehört, dass sie ein vernünftiges Bett von uns bekommen und die Möglichkeit zu duschen. Wir waschen über Nacht auch die Wäsche unserer Gäste. Die meisten Drogenabhängigen haben ja nur das das dabei, was sie anhaben und sie bekommen von uns einen Jogginganzug, frische Socken und frische Unterwäsche. Täglich gibt es ein warmes Abendessen, das sind meist Essensreste von einer Kantine. Wir achten sehr darauf, dass die Mahlzeiten viele Kalorien und Vitamine enthalten. Es ist oft die einzige Mahlzeit, die unsere Gäste zu sich nehmen. Wir bieten auch eine medizinische Erstversorgung im Rahmen eines Erste-Hilfekurses an und um Infektionsketten zu unterbrechen, tauschen wir benutzte Spritzen gegen unbenutzte und verteilen Kondome, weil ein Großteil der Geldbeschaffung über Prostitution läuft.
Frage: Haben Sie auch Dauergäste im "Notel“?
Ackerschott: Wir sind eine Notschlafstelle und jeder kann zu uns kommen. Unsere Gäste können allerdings nur 21 Nächte bei uns übernachten. Es ist uns egal, wie sie das machen, ob am Stück oder auf zwei Monate verteilt. Wenn jemand 21 Mal bei uns war, muss er eine Woche Pause einlegen und kann dann wieder für 21 Nächte hier übernachten. Wir haben im Monat etwa sieben bis acht Neuaufnahmen, also männliche Gäste, die noch nie hier übernachtet haben. Zudem gibt es auch die Möglichkeit für Gäste in Pause nach 21 Uhr bei uns nachzufragen, ob wir noch ein Bett frei haben. Aber morgens um 8 Uhr ist hier Schluss, dann müssen alle wieder raus. Sie wollen auch raus, weil sie sich um die Sucht kümmern müssen.
Frage: Ich überlege, ob Ihr Bettenverteilsystem barmherzig ist oder mehr eine Erziehungsmaßnahme?
Ackerschott: Also wir retten hier niemanden gegen seinen Willen und wir motivieren unsere Gäste auch nicht, ein drogenfreies Leben zu führen. Wie jeder Raucher wissen auch die Drogenabhängigen, dass ihr Konsum nicht gesund ist und dass das tödlich enden kann. Aber hier ist jeder erstmal so willkommen, wie er ist. Wer einen Schritt in Richtung drogenfreies Leben gehen will, den begleiten wir und unterstützen das auch im Rahmen unserer Möglichkeiten. Aber die Initiative muss vom Gast selbst ausgehen. Wir versuchen niemanden zu überreden oder zu überzeugen, von den Drogen los zu kommen.
Frage: Sie machen also kein Entzugsprogramm?
Ackerschott: Nein, dafür gibt es Facheinrichtungen. Wir sind eingebunden an das Drogenhilfesystem der Stadt Köln. Unsere Gäste finden bei uns einfach Ruhe. Das gehört auch zu unserem Konzept, dass es hier ein Raum der Ruhe ist und niemand mit uns reden muss, wenn er nicht will. Wir sprechen hier von absichtsloser Gastfreundschaft.
Frage: Sie haben auch noch eine Krankenwohnung, für wen ist diese gedacht?
Ackerschott: In der Krankenwohnung werden erkrankte Drogenabhängige rund um die Uhr untergebracht. Wenn ich Grippe habe, kann ich zu Hause bleiben. Das können Drogenabhängige ja nicht, denn ihr zu Hause ist die Straße. Eine Grippe reicht auch nicht aus, um in einem Krankenhaus stationär aufgenommen zu werden. Aus diesem Grund ist unsere Krankenwohnung auch immer belegt.
Frage: Das so sehen zu können, erfordert doch auch einiges an Mut, oder?
Ackerschott: Wieso gehört da Mut dazu? Niemand bedroht uns, schon gar nicht unsere Gäste. In der Gesellschaft zählen Leistung und Geld. Ja, das ist auch wichtig, denn ohne Menschen, die uns mit ihrem Geld unterstützen, könnten wir die Arbeit nicht tun. Geld ist wichtig, aber es ist nicht alles. Ich sage mir immer, als Gott diese Idee von diesen Menschen hatte, meinte er es gut mit uns. Jeder Mensch ist so gedacht, dass er ein Geschenk an diese Welt ist. Da bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass das so ist.
Frage: Wann spüren Sie, dass sich Ihre Arbeit lohnt?
Ackerschott: Es ist immer ein Geschenk, wenn Vertrauen wächst und unsere Gäste zu uns Vertrauen fassen. Gelernt habe ich hier im "Notel", dass es Schlimmeres gibt als den Tod. Es ist schlimm, wenn ich sehe, wie Drogenabhängige ohne einen Funken Hoffnung dahinvegetieren. Für sie ist der Tod dann wie eine Erlösung.
Frage: Was wollen sie den Menschen hier geben?
Ackerschott: Ich will hier gar nichts Bestimmtes. Ich will nur da sein und mitgehen. Hier wird nicht missioniert, hier wird nicht bekehrt. Wer will, kann an unserer Liturgie Stundengebet und Eucharistie in der Kapelle teilnehmen. Ich vergleiche unsere Gäste gerne mit dem Volk Israel in der Wüste. Immer wieder wollen sie zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, sprich zurück zu den Drogen. Sie gehen drei Schritte vor und laufen fünf zurück und tanzen um das goldene Kalb die Droge. Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass sie die Wüste ihres Lebens überleben. Das Entscheidende daran ist, dass die Wüste auch ein Ort der Gotteserfahrung ist. Wir sollten mit Achtung von ihr sprechen. Unser Gott ist der "Ich-bin-da".