"Ich dachte nie daran, aus Aleppo wegzugehen"
Frage: Schwester Annie, seit wann leben Sie in Aleppo?
Schwester Annie Demerjian: Seit 1983 sind wir als Missionarinnen in Syrien. Ich wurde in Damaskus geboren, kenne die Situation in Syrien daher schon lange. Anfangs waren wir noch sieben Schwestern, heute sind wir nur noch zu zweit in Aleppo.
Frage: Warum sind Sie nicht auch gegangen, wie die anderen?
Demerjian: Schon im Jahr 2013, also während des Krieges in Syrien, hat uns unsere Provinzoberin geschrieben, dass wir fortgehen könnten, wenn wir es wollten. Wir sind aber geblieben.
Frage: Warum?
Demerjian: Wir wollten mit den Menschen durch diese schwere Zeit gehen, weil das auch unser Land ist. Wir haben gemeinsam mit vielen Freiwilligen ein Hilfsprogramm gestartet. Wir Schwestern haben die Menschen besucht, um zu sehen, was sie am Nötigsten brauchen. Es gab keinen elektrischen Strom, kein fließendes Wasser, die Kinder brauchten warme Kleidung. Wir haben dann Stromgeneratoren organisiert und verteilt, wir haben in Kirchen Wassertanks aufgestellt, so dass Frauen, Kinder und alte Menschen so viel Wasser, wie sie brauchten, mit Kanistern mitnehmen konnten. Und wir haben den einheimischen Schneidereien Aufträge für Kleidung gegeben. All das war nur möglich, weil uns Hilfsorganisationen wie zum Beispiel Kirche in Not oder die Caritas großzügig mit Spendengeldern unterstützt haben. Wir haben gespürt, dass wir von der übrigen Welt nicht vergessen wurden. Diese Zeichen der Solidarität haben uns Sicherheit und Hoffnung gegeben.
Frage: War es für Sie persönlich schwer, zu bleiben?
Demerjian: Ja, es war schwer, aber ich konnte nicht anders. Ich habe immer daran gedacht, was Gott von uns möchte. Gott ist die Liebe und wir sind seine Werkzeuge. Also müssen wir den Menschen in diesem grausamen Krieg beistehen. Das war unsere Mission. Dennoch war es bei jedem Bombenangriff hart, die Schreie der verzweifelten Menschen zu hören. Wir haben versucht zu helfen, damit die Menschen bleiben. Wir haben die letzten Jahre etwa 786 Familien mit Strom und etwa 545 Familien mit Wasser versorgt. Trotzdem sind viele Christen aus Aleppo fortgezogen, denn sie haben alles verloren. Manche sind im letzten Jahr wieder zurückgekommen. Sie waren voller Hoffnung. Und dann gab es letztes Jahr an Ostern diese große Massenpanik. Am Karfreitag wurde das christliche Stadtviertel Suleymaniye von Rebellentruppen heftig beschossen. Bomben explodierten, Menschen starben auf offener Straße, Familien wurden komplett ausgelöscht. Es war schrecklich. Viele der gerade Zurückgekehrten haben die Stadt dann endgültig verlassen und wir konnten sie nicht mehr daran hindern.
Frage: Hatten Sie nicht auch Angst um Ihr Leben?
Demerjian: Wenn ich ehrlich bin, hatte ich jeden Tag große Angst, aber ich dachte nie daran, aus Aleppo wegzugehen. Wenn nachts die Bomben fielen, standen meine Mitschwestern und ich auf und beteten – oft stundenlang. Es waren viele, viele Nächte, die wir so verbracht hatten. Ich kann mich noch gut an den diesjährigen Ostermorgen erinnern. Der Bombenhagel kam immer näher, wir schrien laut und rannten aus dem Haus. Aber wir kamen immer wieder zurück. Es gab viele solcher Schreckensmomente, in denen wir um unser Leben bangten. Dass das alles gut ausgegangen ist, ist wie ein unglaubliches Wunder für uns. Wir danken Gott jeden Tag dafür.
Frage: In welchem Haus haben Sie denn gelebt?
Demerjian: Weil die Bischofsresidenz komplett zerstört war, überließen wir dem Bischof unsere Unterkunft. Eine Familie aus der griechisch-katholischen Gemeinde hat uns in Aleppo ihr Haus überlassen. Diese Familie ist nach Deutschland geflohen und wir stehen bis heute im regelmäßigen Kontakt mit ihr. Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir in diesem Haus wohnen dürfen. Unsere Hoffnung ist aber, dass diese Familie eines Tages wieder zurückkommt.
Frage: Sind Sie so etwas wie die Mutter Teresa von Aleppo?
Demerjian: Mutter Teresa ist für mich wie eine große Mutter und ein starkes Vorbild im Glauben. Die Menschen, die hier in Syrien geblieben sind, sind die wahren Helden. Oft denke ich mir, wir Schwestern haben überlebt, weil Gott noch einen Auftrag für uns hat. Anders kann ich mir nicht erklären, dass wir die letzten sechs Jahre hier unter furchtbaren Umständen überlebt haben. Immer wieder habe ich bei unserer Arbeit gespürt, dass Gott seine Hände im Spiel hatte. Wenn Menschen wie durch ein Wunder überlebt haben, oder wenn Nachbarn plötzlich wieder zu Freunden wurden und einander Gutes getan haben, dann habe ich daraus Hoffnung geschöpft, dass eines Tages alles wieder gut wird.
Frage: Ist der Krieg nun zu Ende?
Demerjian: In manchen Teilen des Landes ist der Krieg vorbei, in Aleppo auch, aber in anderen Teilen des Landes wütet er noch immer. Das ist der Grund, warum so viele Familien Angst haben und nicht mehr zurückkehren wollen. Obwohl hier nicht mehr gekämpft wird, geht es auch in Aleppo noch immer ums nackte Überleben. Dieses Jahr sind immerhin schon 15 christliche Familien zurückgekommen. Doch hier stehen sie dann vor den Scherben ihres bisherigen Lebens und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Ein Familienvater hat mir zum Beispiel erzählt, dass er zurückgekommen ist, weil er seine Wurzeln und seine Tradition nicht verlieren möchte und dies an seine Kinder weitergeben will. Für viele sind diese Wurzeln enorm wichtig. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass die dunklen Wolken des Krieges eines Tages ganz weg sind und wir wieder ein normales Leben führen werden.
Frage: Wie geht es weiter?
Demerjian: Wir haben bisher einige Erfolge gehabt mit unserem Hilfsprogramm. Allerdings ist die Versorgung mit Strom und Wasser noch immer eine Herausforderung. Wer für ein paar Stunden am Tag Strom haben will, muss dafür bezahlen. Aber die Einwohner Aleppos sind oft alte Menschen oder Frauen mit Kindern, die kein Einkommen haben. Wir geben ihnen Strom- oder Lebensmittelgutscheine, damit sie überleben können. Wir haben darüber hinaus andere Hilfsprojekte gestartet: Einige Studenten geben den Kindern Schulunterricht, Frauen unterstützen Familien mit kleineren Hausarbeiten und verdienen so ihr eigenes Geld. Wir spüren einen großen Zusammenhalt unter den Einwohnern Aleppos. Familien tun sich zusammen, um beschädigte Häuser wieder aufzubauen. Das Leben geht weiter, irgendwie.
Frage: Woran fehlt es noch? Wie geht es weiter?
Demerjian: Für die Menschen ist auch die psychologische Betreuung wichtig. Sie brauchen Gespräche, um die schrecklichen Erlebnisse aufzuarbeiten. Dafür sind wir Schwestern auch da. Was mich am meisten beeindruckt: Viele unserer Kirchen sind zerstört, aber die Menschen haben nie aufgehört, ihren Glauben zu leben. Momentan sind wir auch damit beschäftigt, die Kirchen aufzubauen. Viele Priester, vor allem die jungen, sind nie weggegangen und helfen tatkräftig mit. Auch viele Schwestern und Ordensangehörige sind hier geblieben, so wie wir. Jeder hilft, wo er kann. Jede einzelne Kirche, die wir wieder gemeinsam aufbauen, schenkt ein kleines bisschen Hoffnung. Wir arbeiten mit anderen christlichen Kirchen zusammen, wir schauen in die gleiche Richtung und das macht es uns allen leichter, an eine gute Zukunft zu glauben.
Frage: Was ist Ihr größter Wunsch?
Demerjian: Frieden, Frieden, Frieden! Nicht nur bei uns im Land, sondern überall auf der Welt. Und ich wünsche mir, dass irgendwann die Fröhlichkeit in Aleppo wieder größer sein wird als die Traurigkeit.