"Ich habe für jeden einzelnen Toten gebetet"
Das Herz des Kölner Pfarrers Regamy Thillainathan (34) schlägt für die Ärmsten der Armen. Ganz bewusst hat er sich deshalb entschieden, die Osterfeiertage an Bord eines Schiffs im Mittelmeer zu verbringen, bei der Rettung von Flüchtlingen zu helfen und gemeinsam mit der Crew zu beten. Seit dem 11. April war er mit Mitarbeitern der maltesischen Hilfsorganisation Migrant Offshore Aid Station (MOAS) auf See. Mehrere Tausend Flüchtlinge hat die Crew nach eigenen Angaben seither gerettet, rund 500 Menschen waren an Bord und wurden am Mittwoch in den Hafen von Augusta auf Sizilien gebracht. Im Telefon-Interview sprach er am Mittwoch über die Erfahrung der eigenen Ohnmacht, aber auch über schöne und bewegende Momente in seinem Einsatz.
Frage: Herr Pfarrer Thillainathan, Sie sind seit über einer Woche auf dem Rettungsschiff. Ist die Situation so, wie Sie sie erwartet hatten?
Thillainathan: Die Situation ist natürlich anders, als ich es erwartet hatte. Eigentlich hatte ich gar keine richtigen Erwartungen. Ich war nur darauf vorbereitet, dass es anstrengend werden wird und dass ich mit vielen Leidensgeschichten konfrontiert werde. Ich hatte Angst, dass ich seekrank werde und nicht mehr helfen kann. Aber das ist zum Glück nicht eingetreten.
„Mein Herz hat schon immer dafür geschlagen, mich für die Ärmsten der Armen einzusetzen.“
Frage: Können Sie kurz beschreiben, was Sie an den vergangenen Tagen gemacht haben?
Thillainathan: In den vergangenen Tagen habe ich überall da ausgeholfen, wo man mich gebraucht hat. Ich war von Anfang an dabei, wenn die geretteten Flüchtlinge an Bord kamen. Sie zu registrieren war eine meiner Hauptaufgaben, aber auch sie zu versorgen, zum Beispiel mit Wasser und Decken. Manchmal habe ich mich darum gekümmert, dass die Leute Essen bekommen, dann habe ich auf der Krankenstation Dienst getan. Und ich war natürlich für die Gottesdienste und für die geistliche Begleitung der Crew verantwortlich.
Frage: Wie sind Ihre Gefühle nach diesen Erfahrungen?
Thillainathan: Ich habe in den letzten Tagen ein Wechselbad der Gefühle erlebt. In den ersten Tagen war ich dankbar, dass wir niemanden verloren haben. In den letzten Tagen mussten wir dann aber doch einige Leichen bergen. Ich war bei jeder einzelnen dabei, wenn sie in die Leichensäcke hineingelegt wurde. Ich habe für jeden einzelnen Toten gebetet. Als ich einen sieben- oder achtjährigen Jungen in so einen Leichensack packen musste, merkte ich, dass mich die Schmerzen über seinen Tod vollkommen überwältigt haben.
Frage: Wie begegnen Sie dieser eigenen Hilflosigkeit?
Thillainathan: Die eigene Hilflosigkeit war schon immer etwas, womit ich zu kämpfen hatte. Ich war elf Jahre lang im Kinder- und Jugendhilfebereich tätig. Ich habe in Indien über ein Jahr lang bei den Missionaren der Nächstenliebe von Mutter Teresa gearbeitet, habe minderjährige Prostituierte und sterbende Kinder begleitet. Aber ich habe mir immer vorgenommen, niemals Opfer meiner eigenen Ohnmacht zu werden, sondern bis zum bitteren Ende zu kämpfen, damit zumindest irgendwie eine Veränderung eintreten kann.
Frage: Am Ostersonntag waren zwei Schiffe mit Seenotrettern deutscher Hilfsorganisationen vor der libyschen Küste in Seenot geraten. Hatten Sie Kontakt zu den Besatzungen?
Thillainathan: Wir waren direkt neben den beiden Schiffen, die in Seenot geraten sind. Wir haben mit ihnen ausgeharrt, bis Hilfe kam, und sind erst dann weitergefahren. Inzwischen sind sie in sicheren Häfen angekommen.
Themenseite: Auf der Flucht
Die Flüchtlingskrise fordert Staat, Gesellschaft und Kirchen mit ganzer Kraft heraus. Auch die katholische Kirche in Deutschland engagiert sich umfangreich in der Flüchtlingsarbeit. Weitere Informationen dazu auf der Themenseite "Auf der Flucht".Frage: Gab es trotz des vielen Leids, das Sie miterleben mussten, auch schöne Momente?
Thillainathan: Ja, es gab sehr viele schöne Momente. Ich komme sehr gut mit meiner Crew zurecht. Die Mitarbeiter sind wundervolle Menschen. Wir haben viele lustige Momente zusammen erlebt und auch schöne Momente. Wenn zum Beispiel jemand, der an der Schwelle des Todes stand, doch gerettet werden konnte oder wenn ich ein zwei Wochen altes Kind in den Händen halten konnte und wusste, dieses Kind lebt, weil wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Das beruhigt nicht nur, sondern das gibt mir Kraft.
Frage: War in dem ganzen Trubel Zeit, um zu beten und Ostern zu feiern?
Thillainathan: Ich habe meine Tage immer mit Gebet begonnen, und ich habe sie mit Gebet beendet. An Festtagen wie Gründonnerstag habe ich die Heilige Messe mit der Crew feiern können. Die Osternacht konnten wir am Samstagabend nicht feiern, weil wir im Dienst waren, und auch am Sonntag, während die anderen Schiffe in Seenot geraten waren, konnten wir uns natürlich nicht zurückziehen. Aber dafür haben wir Montagnacht nachgefeiert. Dann war auch für uns endlich Ostern.
Frage: Was nehmen Sie aus Ihrer Zeit an Bord mit?
Thillainathan: Mein Herz hat schon immer dafür geschlagen, mich für die Ärmsten der Armen einzusetzen. Das Versprechen, das ich bei meiner Priesterweihe gegeben habe, nämlich den Armen und Kranken beizustehen und den Heimatlosen und Notleidenden zu helfen, möchte ich immer neu mit Leben füllen.