"Ich packe meine Koffer"
Es ist alles verloren, wäre in dieser Situation ein naheliegender Gedanke. Brüggemann, dessen Leben bis zu diesem Zeitpunkt bemerkenswert glatt verlaufen ist, jedoch sagt sich: Jetzt ist alles möglich! "Ich habe innegehalten und überlegt, wo kann mein Weg mich hinführen", erinnert er sich. Seine gelassene Innenschau fördert einen "Herzenswunsch" zutage, den er seit langem mit sich herumträgt.
"Ich wollte mich immer für Menschen eine Zeit lang aktiv engagieren, die bedürftig sind und Hilfe brauchen", erzählt er. Ob er statt Manager lieber Sozialarbeiter geworden wäre? Lachend schüttelt er den Kopf: "Nein, ich habe meinen Beruf geliebt, auch wenn das Arbeiten oft einem Lauf im Hamsterrad glich." Der hektische Arbeitsalltag bei einem französischen Versicherungskonzern liegt nun hinter ihm. Nach der Finanzkrise 2008 und Veränderungen bei seinem Arbeitgeber ergriff er die Chance, nahm das Angebot einer Abfindung an, und ging.
Brüggemann will in einem Kinderdorf arbeiten
Geld, mit dem er sich heute - zwei Jahre später - einen besonderen Traum erfüllt: "Ich packe meine Koffer und gehe nach Peru ." Nicht etwa zum Trekking in die Anden, sondern um in einem Kinderdorf der Hilfsorganisation "nuestros pequeños hermanos" (nph) als Entwicklungshelfer zu arbeiten. Vom Bankenviertel in die peruanische Provinz: Mehr als hundert Jungen und Mädchen leben hier nahe der Kleinstadt San Vicente de Cañete, darunter viele Waisen und Halbwaisen, Kinder aus armen Familien, aufgewachsen teilweise mit den Drogen- und Alkoholproblemen ihrer Eltern.
Bei ihnen sieht Brüggemann für die nächste Zeit seinen Platz. "Als Manager habe ich oft für gute Zwecke gespendet", sagt er. Das Wesentliche habe ihm dabei aber gefehlt. "Ich konnte nie richtig mit dem Herzen dabei sein, weil ich die Menschen nicht kannte, denen ich damit half." Das wird nun anders und er freut sich darauf. "Mir und meiner Familie ist es immer gut gegangen, ich bin gesund und in einem stabilen Elternhaus aufgewachsen", erklärt er seine Motivation. Davon wolle er nun etwas zurückgeben.
Seine Kinder sind geteilter Meinung
Walter Brüggemann ist 54 Jahre alt und gibt seinem Leben eine völlig neue Richtung, da bleiben Reaktionen aus seinem Umfeld nicht aus. "Meine Geschwister und Freunde sind überrascht, sie stehen alle noch im Berufsleben. Aber viele sagen auch: 'Ich finde es klasse, dass du das in deinem Alter noch machst.'" Seine drei Söhne sind geteilter Meinung. "Die beiden älteren - Florian (21) und Fabian (17) - finden es cool. Der Jüngste, Oliver (15), hält sich eher zurück."
„Allerdings werden mir meine Söhne fehlen und ich habe auch Sorge, ihnen könnte etwas passieren, während ich so weit weg bin.“
Sie von seiner Sache zu überzeugen, ist ein besonderes Anliegen Brüggemanns: "Ich würde ihnen dringend empfehlen, auch ein Jahr als Freiwilliger in ein anderes Land zu gehen." Er hofft, dass seine Entscheidung sie dazu ermuntert, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Als Anstoß hat er seinen Söhnen an Weihnachten Patenschaften für Jugendliche aus den Kinderdörfern geschenkt. "Vielleicht nutzen sie diese Chance, mit Menschen auf der anderen Seite der Welt in Kontakt zu treten."
Warum gerade Peru? "Dass ich mit Waisenkindern arbeiten wollte, war schnell klar", sagt Walter Brüggemann. "In Deutschland gibt es viele Möglichkeiten, um sich zu engagieren, aber ich möchte gerne dabei auch eine andere Kultur kennenlernen und eine neue Sprache lernen." Er hätte auch einen Globus drehen und den Zufall entscheiden lassen können. Stattdessen googelt er "Waisenkinder international" und bleibt gleich beim ersten Treffer hängen. Die Website von nph deutschland fesselt ihn bis tief in die Nacht. Vor 60 Jahren von einem amerikanischen Padre gegründet, betreibt die Organisation heute elf Kinderdörfer in neun Ländern Lateinamerikas, die 3.300 Kindern aus armen Verhältnissen ein Zuhause und eine Zukunft geben.
Der Weg von der ersten Anfrage bei nph deutschland bis zur Wunschstelle als Projektmanager im peruanischen Kinderdorf in San Vicente de Cañete, erfordert Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen. Beides liegt Brüggemann im Blut. Als nach dem Auswahlverfahren in Deutschland keine Reaktion auf seine Bewerbung kommt, wird er selbst aktiv.
Brüggemann: "Ich bin grundsätzlich tiefenentspannt."
Er lernt spanisch, übernimmt Patenschaften für nph-Kinder, betreibt Fundraising in seiner Heimatstadt und reist schließlich selbst nach Lateinamerika, um Kinderdörfer zu besuchen. Drei Tage verbringt er auch in San Vicente de Cañete, führt intensive Gespräche mit dem Leiter des Dorfes und hält einige Wochen später tatsächlich die Zusage in den Händen. Ab dem 1. August wird er für ein Jahr in der "Casa Santa Rosa de Lima" als Projektkoordinator arbeiten.
Was danach folgt? Darüber wird er nachdenken, wenn die Zeit gekommen ist. Er habe schon einige Ideen im Kopf und wolle auch nicht ausschließen, ganz in Peru zu bleiben. "Das Land gefällt mir und die Menschen sind so lebensfroh und herzlich, trotz ihrer oft schwierigen Situation." Erst einmal will er sich jedoch ganz auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihm liegt.
Ängste und Bedenken hemmen ihn dabei nicht. "Ich bin grundsätzlich tiefenentspannt", schmunzelt er. "Allerdings werden mir meine Söhne fehlen und ich habe auch Sorge, ihnen könnte etwas passieren, während ich so weit weg bin", sagt er und macht sich gleich darauf Mut: "Aber dann setzte ich mich in den Flieger und bin am nächsten Tag da." Außerdem sei er mit seiner Familie über Facetime und Skype verbunden. "Da hat man das Gefühl, man sitzt im Nebenraum."
Anfang August wird der Manager Walter Brüggemann ins Flugzeug steigen, seinem bisherigen Leben kurz zuwinken und um die halbe Welt fliegen, um das zu tun, was ihm sein Herz schon so lange vorgibt. Und Sie können ihn bei seinem Abenteuer begleiten – im neuen katholisch.de-Blog aus Peru.
Von Janina Mogendorf