Papst Franziskus mahnt in Turin zur Solidarität mit Flüchtlingen

Im Schatten des Grabtuchs

Veröffentlicht am 21.06.2015 um 16:33 Uhr – Von Christoph Schmidt (KNA) – Lesedauer: 
Papst

Turin ‐ Das Schlüsselmotiv bot diese Papstreise gleich zu Beginn: Minutenlang saß Franziskus in sich gesunken vor dem Turiner Grabtuch. Wofür mag er gebetet haben? Zuvor hatte der Papst erneut den Blick auf die Not der Migranten gelenkt - und dann auch noch unerwartete Heimatgefühle gezeigt.

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Einst ein Motor des italienischen Wirtschaftswunders und Millionenstadt, kämpft die Fiat-Stadt heute wie wenige andere mit der Dauerkrise des Landes. Die Arbeitslosigkeit lag zuletzt bei fast 13 Prozent. Gleichzeitig hat die Mafia Turin als Tummelplatz entdeckt. Potenzial für soziale Spannungen liefert auch die Migrationsfrage. Die von der Forza Italia und der rechtspopulistischen Lega Nord regierte Region Piemont weigert sich, weitere Flüchtlinge aufzunehmen.

Reichlich "Franziskus-Themen" also. Der Papst sprach sie alle noch vor seinem Gang zu dem im Dom ausgestellten Grabtuch an. "Die Arbeit ist nicht nur für die Wirtschaft notwendig, sondern auch für die menschliche Person, für ihre Würde, für ihre Teilhabe am Staat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt", sagte er in Gegenwart geladener Gäste vor der Kathedrale. Erneut prangerte er die skandalös hohe Jugenderwerbslosigkeit an und - auch dies inzwischen ein Charakteristikum bei ihm - kritisierte die Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt.

Bild: ©KNA

Das Grabtuch von Turin: Erst die ersten fotografien zeigten vor genau 100 Jahren den schwachen Doppelabdruck eines bärtigen Mannes mit allen Symptomen der biblischen Kreuzigungsgeschichte.

"'Nein' zu einer Wirtschaft, die Menschen wegwirft ... 'Nein' zur Anbetung des Geldes ... 'Nein' zur Korruption ... 'Nein' zur Ungerechtigkeit, die Gewalt erzeugt", rief er. Migranten dürften nicht als Sündenböcke dienen; sie selbst seien Opfer einer Weltwirtschaft, der es nicht um den Menschen und das Gemeinwohl gehe.

Papst: Das Bild des Gekreuzigten mahne zur Hilfe für Leidende und Verfolgte

Offenbar wollten auch die Organisatoren der anschließenden Messe auf der sonnigen Piazza Vittorio dem Flüchtlingsthema besonderes Gewicht geben. Ein dunkelhäutiger Migrant bat in einer Fürbitte vor Zehntausenden um ein Ende der Ausgrenzung, eine schwarzafrikanische Familie brachte zur Gabenbereitung Hostienschalen an den Altar. Und als Franziskus in seiner Predigt davor warnte, durch das Schüren von Fremdenangst eine "geschlossene Gesellschaft" anzustreben, schien dies direkt an die anwesenden Politiker gerichtet. Das Bild des Gekreuzigten auf dem Grabtuch mahne zur Hilfe für Leidende und Verfolgte, so Franziskus.

Bei ihm selbst kam derweil auch Heimatgefühl auf: "Ich bin ein Enkel dieser Erde", bekannte er während der Messe. Sein Vater wanderte 1929 aus der piemontesischen Stadt Asti nach Argentinien aus. Hörbar berührt zitierte der Papst aus einem Gedicht des Turiner Poeten Nino Costa. Am Montag, dem zweiten Besuchstag, verbringt er gleich mehrere Stunden bei einem privaten Treffen mit Verwandten.

In dem Sarkophag in der Maria-Hilf-Basilika in Turin-Valdocco befinden sich die sterblichen Überreste des heiligen Don Bosco.
Bild: ©katholisch.de

Im Sarkophag in der Maria-Hilf-Basilika in Turin-Valdocco befinden sich die sterblichen Überreste des heiligen Don Bosco.

Das Mittagessen nahm Franziskus in der Residenz des Erzbischofs mit Häftlingen, Flüchtlingen und Obdachlosen ein - auch das inzwischen ein fester Bestandteil von Papstreisen. Danach begab er sich im offenen Wagen durch dichtgesäumte Straßen auf die Spuren der heiligen Helden Turins.

Don Boscos 200. Geburtstag ist Anlass der Ausstellung des Grabtuchs

Das Elend der industriellen Revolution hat sie hervorgebracht, die "Turiner Sozialheiligen" des 19. Jahrhunderts. Allen voran der Heilige Giovanni Bosco (1815-1888), der den Salesianerorden gründete, heute zweitgrößter katholischer Männerorden. Don Boscos 200. Geburtstag ist Anlass der Ausstellung des Grabtuchs, die noch bis Mittwoch dauert. Für viele hier sind der Jugendseelsorger und revolutionäre Pädagoge geradezu eine Turiner "Weltmarke". Franziskus gedachte des Heiligen betend an dessen Grab in der Basilika Maria Ausiliatrice.

Danach wollte er die von Giuseppe Cottolengo (1786-1842) begründete Pflegeeinrichtung besuchen. Dort leben mehr als 1.000 Kranke, Waise, Behinderte und Sterbende. Auf dem dichten Besuchsprogramm stand außerdem ein Treffen mit Jugendlichen.

Am Montag der ökumenische Höhepunkt: Als erster Papst betritt Franziskus eine Kirche der evangelischen Waldensergemeinde. Im Mittelalter hatte die katholische Kirche die Waldenser blutig verfolgt und Schuld auf sich geladen. Ob der Papst jetzt dafür um Verzeihung bittet, war Sonntag noch ungewiss. Eine Ansprache ist jedenfalls vorgesehen.

Hintergrund: Don Bosco und die Salesianer

Der heilige Giovanni Bosco (1815-1888) ist bekannter als Don Bosco. Er war Priester, Pädagoge, Zauberkünstler, Schriftsteller, Sozialarbeiter und Ordensgründer. In der italienischen Industriemetropole Turin begegnete er arbeitslosen und sozial entwurzelten Jugendlichen. Er holte sie von der Straße und nahm sie in seinem Oratorium auf, einem offenen Jugendzentrum. Für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen betrachtete er vier Elemente als wesentlich: Geborgenheit, Freizeit, Bildung und Glaube. 1859 gründete der "Streetworker Gottes" in Turin im Geiste des heiligen Franz von Sales (1567-1622) eine religiöse Vereinigung zur Betreuung von Lehrlingen und jungen Arbeitern, die 1869 als Kongregation approbiert wurde. Heute setzen sich in mehr als 130 Ländern rund 16.000 Salesianer Don Boscos und 13.300 Don-Bosco-Schwestern im Sinne ihrer Gründer für Kinder und Jugendliche am Rande der Gesellschaft ein.
Von Christoph Schmidt (KNA)