Der Vorstoß des israelischen Ministerpräsidenten, Juden sollten aus Europa nach Israel auswandern, stößt auf Kritik

"Juden gehören zu uns"

Veröffentlicht am 17.02.2015 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Antisemitismus

Bonn ‐ Eine erneute Abwanderungswelle von Juden aus Europa? 70 Jahre nach dem Holocaust ruft diese Vorstellung Politiker und Religionsvertreter auf den Plan. Einhellig zeigen sie kein Verständnis für einen Vorstoß des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Der hatte europäische Juden aufgerufen, nach Israel auszuwandern, nachdem am Wochenende bei Anschlägen in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ein Filmemacher und ein jüdischer Wachmann getötet wurden.

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"Quatsch mit Soße", so lautete etwa der Kommentar von Maram Stern, dem Vizegeneralsekretär des Jüdischen Weltkongresses. "Das kann doch nicht die Lösung sein. Was würde dann passieren? Ein judenfreies Europa? Nein, dazu wird und darf es nicht kommen", erzürnte er sich.

Bild: ©KNA

Josef Schuster ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Gemäßigtere Worte fand der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster. Er "sehe derzeit keinen Grund, warum Juden Deutschland verlassen sollten", sagte er am Dienstag. Einen vollständigen Schutz vor terroristischen Anschlägen gebe es auch in Israel nicht. Dagegen liege es "im Interesse Israels den Wunsch zu hegen und aktiv daran zu arbeiten, dass jüdische Menschen nach Israel einwandern". Schusters Vorvorgängerin in Amt und heutige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch erklärte, Israel brauche weltweit eine "starke und schlagkräftige Diaspora". Dazu gehörten auch die europäischen Juden. Dänemarks Oberrabbiner Jair Melchior sagte, Juden könnten nach Israel auswandern, weil sie den jüdischen Staat liebten, "aber nicht, weil sie Angst haben, in Dänemark zu leben".

Weihbischof Jaschke: "Eine traurige Botschaft"

Auch die Reaktion der katholischen Kirche war eindeutig: "Wenn Ministerpräsident Netanjahu die Juden in Europa jetzt aufruft, nach Israel auszuwandern, ist das eine sehr traurige Botschaft. Das dürfen wir nicht zulassen, denn die Juden gehören hier zu uns", sagte der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke, der innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz für den interreligiösen Dialog zuständig ist.

Gleichwohl trifft der Aufruf Netanjahus den Nerv: "Man fühlt sich im Alltag unwohl. Mein 17-jähriger Neffe fragt sich, ob er zu jüdisch aussieht; wie er sich kleidet, wenn er das Haus verlässt", berichtet Maram Stern, der aus Berlin stammt, aus seinem persönlichen Umfeld. Die Anschläge von Dänemark und Paris seien nur Teile eines Puzzles, das ein sehr hässliches Bild ergebe. Viele Juden diskutierten deshalb nun wieder ernsthaft über eine Auswanderung nach Israel.

Im vergangenen Jahr hatte die Zahl der Einwanderer nach Israel mit rund 26.500 Menschen ein Zehnjahreshoch erreicht. Der Anteil der Menschen aus Deutschland war dabei im europäischen Vergleich moderat: 120 Personen kamen aus der BRD, während es allein aus Frankreich 7.000 waren (siehe Grafik). Es gebe in Frankreich einen "enormen Anstieg" antisemitischer, antimuslimischer und homophober Taten, sagte der europäische Menschenrechtskommissar, Nils Muiznieks, der am Dienstag einen Bericht zur Situation der Menschenrechte in Frankreich vorstellte.

Aufbegehren der Zivilgesellschaft gefordert

Erst im Januar waren bei einem Anschlag von muslimischen Extremisten auf die französische Satire-Zeitung "Charlie Hebdo" in Paris elf Menschen gestorben. Wenige Tage später war ebenfalls in der französischen Hauptstadt ein Supermarkt mit koscheren Lebensmitteln Ziel eines Überfalls, dem vier Menschen zum Opfer fielen.

Auch vor diesem Hintergrund sind die jüdischen Vertreter sind von den Reaktionen der Europäer auf den Kopenhagener Anschlag enttäuscht. Er sei schockiert, sagte Maram Stern. Die Menschen hakten die Geschehnisse "einfach unter 'und noch ein Anschlag' ab. Das tut weh". Er forderte ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft. "Es gibt kein Aufstehen, kein Aufbäumen. Irgendetwas muss sich ändern".

Auch Charlotte Knobloch appellierte, die antisemitische Gewalt, die von Islamisten und anderen ausgehe, müsse in Europa entschlossener mit allen politischen und rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden. Das gelte für die Politik, die Sicherheitskräfte und die Gesellschaft. Der Zentralratsvorsitzende Josef Schuster sagte, die muslimischen Gemeinden müssten mehr Aufklärungsarbeit zu leisten. Zudem müsse der deutsche Staat die jüdischen Einrichtungen schützen: "Ich vertraue hier sowohl in die Bundesregierung als auch in die Sicherheitsbehörden". (mit Material von dpa und KNA)

Von Gabriele Höfling