Europäischer Gerichtshof: Schweiz soll Sterbehilfe-Regeln überprüfen

"Keine klaren Kriterien"

Veröffentlicht am 14.05.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Sterbehilfe

Straßburg ‐ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz zur Klärung ihrer Rechtsbestimmungen über die Sterbehilfe aufgefordert. Das Schweizer Recht, das den Erwerb eines tödlichen Medikaments auf Rezept grundsätzlich gestattet, enthalte keine ausreichend klaren Kriterien, wann der Erwerb rechtmäßig sei, hieß es in dem Urteil des EGMR am Dienstag in Straßburg.

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Geklagt hatte eine 82-jährige Frau aus dem Kanton Zürich, die nicht todkrank war. Die Behörden hatten ihr nicht erlaubt, sich ein tödliches Medikament zu beschaffen. Wegen ihrer schwindenden körperlichen und geistigen Kräfte sah sie schon seit einigen Jahren keinen Sinn mehr in ihrem Leben. 2005 unternahm sie einen Selbstmordversuch. Die Organisation "Exit" hatte ihren Sterbewunsch abgelehnt, weil sie nicht unheilbar krank war. Auch Ärzte wollten ihr kein Rezept für eine tödliche Medikamentendosis ausstellen.

Ob diese Weigerung der Behörden rechtens war, haben die Richter nicht geprüft. Doch die unklaren Bestimmungen der Gesetzestexte betrachtete der EGMR als ausreichend, um einen Verstoß gegen die Achtung des Privatlebens der Frau festzustellen. Diese Ungewissheit habe ihr "vermutlich beträchtliche seelische Not verursacht", hieß es in dem Urteil.

"Unklare rechtliche Bestimmungen"

Die Unsicherheit gilt nach Ansicht des EGMR auch für Ärzte. „"Unklare rechtliche Bestimmungen haben vermutlich eine abschreckende Wirkung auf Mediziner, die in einem solchen Fall ein entsprechendes Rezept ausstellen würden", hieß es in dem Text. Der EGMR entschied mit der knappen Mehrheit von vier Stimmen. Drei Richter befanden, dass das Privatleben nicht verletzt worden sei.

Aktive Sterbehilfe ist in der Schweiz - wie in Deutschland und den meisten europäischen Ländern - verboten. Allerdings dürfen Organisationen unheilbar Kranken tödliche Medikamente anbieten, die diese dann selbst einnehmen. Nach Einschätzung des EGMR garantiert die Europäische Menschenrechtskonvention kein Recht auf aktive Sterbehilfe.

Katechismus verbietet Sterbehilfe

Die katholische Kirche lehnt Sterbehilfe generell ab, da sie dem fünften biblischen Gebot ("Du sollst nicht töten") widerspricht. Der Katechismus der Kirche besagt unter Absatz 2.269 wörtlich: "Das fünfte Gebot untersagt auch, etwas mit der Absicht zu tun, den Tod eines Menschen indirekt herbeizuführen."

Stattdessen fordert die Kirche ihre Gläubigen dazu auf, einem Menschen in seinem Sterbeprozess beizustehen. "Selbst wenn voraussichtlich der Tod unmittelbar bevorsteht, darf die Pflege, die man für gewöhnlich einem kranken Menschen schuldet, nicht abgebrochen werden", heißt es unter Absatz 2.279. Und weiter: "Die Betreuung des Sterbenden ist eine vorbildliche Form selbstloser Nächstenliebe". (stz/dpa)

Begriffe zur Sterbehilfe

Aktive Sterbehilfe: Tötung des Patienten auf dessen ausdrückliches Verlangen durch Eingreifen von außen, meist durch einen Arzt. Die Tötung auf Verlangen ist in Deutschland verboten, in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg dagegen unter bestimmten Bedingungen erlaugt. Aktive Tötung: Die autonome Entscheidung des Arztes, den Patienten zu töten, ohne dass dies mit dem betroffenen Kranken besprochen worden wäre. Indirekte Sterbehilfe: Gabe von Medikamenten, zum Beispiel Schmerzmitteln, bei denen ein vorzeitiger Tod in Kauf genommen wird. Wegweisend in Deutschland war ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1996: Die Richter haben klargestellt, dass es erlaubt oder sogar geboten ist, schmerzlindernde Medikamente auch in einer Dosis zu verabreichen, die als unbeabsichtigte Nebenwirkung die Sterbephase verkürzen könnte. Beihilfe zur Selbsttötung: Da Selbsttötungsversuche in Deutschland juristisch nicht belangt werden, ist auch die Beihilfe zum Suizid straffrei. Allerdings können Helfer anschließend wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Durch die Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas und den früheren Hamburger Justizsenator Roger Kusch ist das Problem der gewerblichen oder geschäftsmäßigen Förderung der Beihilfe zur Selbsttötung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Bislang gab es mehrere Anläufe im Bundesrat, gewerbliche und organisierte Beihilfe zum Suizid zu verbieten oder zumindest ein Werbeverbot zu erlassen. Mit dem am Mittwoch beschlossenen Gesetzentwurf will die Bundesregierung die gewerbliche Beihilfe zum Suizid verbieten, nicht aber die geschäftsmäßige. Passive Sterbehilfe: Unterlassung oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen wie künstliche Ernährung und Beatmung oder Verzicht auf Behandlung mit Antibiotika. Die passive Sterbehilfe ist geboten, wenn der Patient sich entsprechend äußert oder wenn die Maßnahmen - unabhängig vom Patientenwillen - medizinisch wirkungslos oder gar schädlich sind. Problematisch ist der Begriff "passive Sterbehilfe", weil er auch Handlungen umfasst, die nach allgemeinem Verständnis als aktiv zu bezeichnen sind, wie beispielsweise das Abschalten des Beatmungsgerätes. Mittlerweile ist aber durch Gerichte und die Bundesärztekammer klargestellt, dass Tun und Unterlassen im Rahmen der passiven Sterbehilfe keinen Unterschied bedeuten. (KNA)