Klarheit und Entschiedenheit bei Aufarbeitung
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbrüder,
Sie werden in den vergangenen Tagen die Berichterstattung über das Vorgehen des Bistums Hildesheim in Zusammenhang mit den Missbrauchsvorwürfen gegen den ehemaligen Pfarrer Peter R. verfolgt haben.
In den letzten fünf Jahren haben wir die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Bistum Hildesheim mit Klarheit und Entschiedenheit vorangetrieben. Im Mittelpunkt standen dabei vor allem die Opfer dieser schrecklichen Verbrechen. Insofern bedrückt mich die Situation der heute jungen Frau sehr, die sich damals an uns gewandt hat.
Mit erheblichem personellen und materiellen Aufwand haben wir seit fünf Jahren in die Präventionsarbeit investiert. Sie selbst haben persönlich dazu beigetragen, indem Sie an der für alle pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtenden Präventionsschulung teilgenommen haben. Für diese große Bereitschaft bin ich Ihnen sehr dankbar.
Vor diesem Hintergrund kann ich gut nachvollziehen, dass bei Ihnen durch die Berichterstattung über unseren Umgang mit den Missbrauchsvorwürfen gegen Peter R. Irritationen entstanden sind und nicht wenige von Ihnen enttäuscht und womöglich sogar verärgert sein mögen. Zu einigen Aspekten des Verfahrens erlaube ich mir, nochmals ausführlich Stellung zu nehmen.
Wesentliche Kritik betrifft die Einschätzung des Erstgesprächs, das der damalige Missbrauchsbeauftragte und heutige Weihbischof Bongartz mit dem damals 14-jährigen Mädchen in Begleitung ihrer Religionslehrerin im März 2010 geführt hat. Einer vollständigen Veröffentlichung des Vermerks über das am 3. März 2010 mit dem Mädchen geführte Gespräch, der offenbar verschiedenen Redaktionen im Wortlaut vorliegt, hat die Betroffene gegenüber dem Bistum Hildesheim bislang nicht zugestimmt.
Der Inhalt des über dieses Gespräch angefertigten Vermerks wird in der Presseberichterstattung jedoch teils unzutreffend, teils unvollständig und irreführend wiedergegeben bzw. zitiert. Weiter wird der Vermerk über dieses Gespräch in einigen Medien irreführend als "Geheimprotokoll" bezeichnet, obwohl dessen Inhalt Gegenstand der Pressekonferenz des Bistums Hildesheim vom 1. Dezember 2015 war. Ein Video der vollständigen Pressekonferenz ist über die Mediathek des Norddeutschen Rundfunks (www.ndr.de) im Internet abrufbar.
Im Rahmen des im März 2010 gemeinsam mit ihrer damaligen Religionslehrerin geführten Gesprächs gab das Mädchen an, sie habe Peter R., der ein enger Freund ihrer erziehungsberechtigten Großeltern gewesen war, für vier Tage in Berlin besucht und habe mit ihm in einem Zimmer übernachtet. Dabei sei Peter R. ihr nahe gekommen und habe ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Insoweit heißt es in dem Gesprächsvermerk: "Sonst sei aber nichts geschehen." Dies findet beispielsweise in einer Berichterstattung von Spiegel-Online vom 15.12.2015, die vorgibt "wörtlich" aus diesem Gesprächsprotokoll zu zitieren, keine Erwähnung. Vielmehr heißt es dort verkürzt: "In dem Kirchenprotokoll steht wörtlich, Peter R. sei bei einer Übernachtung der Minderjährigen 'nahe gekommen'."
Darüber hinaus gab das Mädchen, wie in dem Gesprächsvermerk festgehalten, an, "schon in früheren Zeiten habe Peter R. immer wieder Situationen herbeigeführt, in denen er mit ihr allein gewesen sei. Er sei dabei aufdringlich geworden (Umarmungen), aber nie übergriffig".
In der bereits erwähnten Berichterstattung von Spiegel-Online wird der Gesprächsvermerk von März 2010 hingegen auch insoweit unvollständig zitiert, wenn es lediglich heißt: "Schon in früheren Zeiten habe Peter R. immer wieder Situationen herbeigeführt, in denen er mit ihr allein gewesen sei. Er sei dabei aufdringlich geworden... ."
Das Mädchen verneinte im Rahmen des Erstgesprächs wiederholt die Nachfrage, ob es neben dem erwähnten Wangenkuss und den Umarmungen bei davorliegenden Gelegenheiten zu weiteren, darüber hinausgehenden Übergriffigkeiten gekommen sei. Da sich das Mädchen in diesem ersten Gespräch im März 2010 sehr zurückhaltend äußerte, bot Weihbischof Bongartz ihr an, mit ihren erziehungsberechtigten Großeltern zu sprechen. Auch machte er deutlich, dass sie jederzeit wieder mit ihm das Gespräch suchen könne. Ihre Religionslehrerin würde dabei behilflich sein. Auf die eindringliche und wiederholte Bitte des Mädchens hin wurde – um das seitens des Mädchens dem Weihbischof und ihrer Lehrerin gegenüber entgegengebrachte Vertrauen nicht sogleich wieder zu enttäuschen – von einem Gespräch mit den Großeltern abgesehen. Da ein sexueller Missbrauch zu diesem Zeitpunkt nicht benannt wurde, wurden zunächst auch die staatlichen Stellen nicht einbezogen. Neben den bereits erwähnten Gesprächsangeboten wurde das Mädchen, da sie zum damaligen Zeitpunkt eine Therapie wahrnahm, ermutigt, gegebenenfalls auch mit ihrer Therapeutin über die Vorkommnisse zu sprechen. Entgegen der Darstellung in der Berichterstattung von Spiegel-Online vom 15.12.2015 wurde dem Mädchen daher nicht lediglich geraten, dass sie zukünftig den Kontakt mit Peter R. meiden solle.
Aus heutiger Sicht und mit der Erfahrung von fünf Jahren Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch würden wir heute anders entscheiden und vorgehen. Dass wir damals so entschieden haben, bedauern wir heute sehr. Womöglich wäre es dem Mädchen eine größere Hilfe und Unterstützung gewesen, wenn man sich im März 2010 über ihre ausdrückliche Bitte hinweggesetzt und trotz oder wegen ihrer zurückhaltenden Schilderung das Gespräch mit den erziehungsberechtigten Großeltern gesucht und/oder unmittelbar die Staatsanwaltschaft kontaktiert hätte. Denn das Mädchen offenbarte sich im Rahmen einer Therapie und sodann auch gegenüber ihren Großeltern – wie nachfolgend dargestellt – erst im Oktober 2010.
Als im November 2010 die erziehungsberechtigten Großeltern Weihbischof Bongartz aufsuchten, ergaben sich aufgrund ihrer Schilderungen und der Vorlage einer von ihrer Enkeltochter verfassten handschriftlichen Erklärung eindeutige Hinweise auf sexuellen Missbrauch. So schilderte das Mädchen nunmehr, Peter R. sei, als sie ihn in Berlin besuchte, bei einer Übernachtung im selben Zimmer auf einmal zu ihr gekommen, habe sich auf sie gelegt und versucht, sie zu küssen "(und etwas mehr)". Sie habe daraufhin ihren Kopf weggedreht, und er habe sich dann wieder hingelegt. Der Inhalt des Gesprächs im März 2010 wurde den Erziehungsberechtigten mitgeteilt und der seinerzeit verfasste Gesprächsvermerk auszugsweise vorgelesen. Weihbischof Bongartz wies die Großeltern auf die Pflicht des Bistums hin, diesen Missbrauchsvorwurf der Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Die Großeltern erklärten sich hiermit einverstanden. Zu den Unterlagen, die der Staatsanwaltschaft übergeben wurden, gehörte ein Protokoll über das mit den Großeltern geführte Gespräch. Gegenstand dieses Gesprächs mit den Großeltern war auch die Vorgeschichte von Peter R. und das Bekanntwerden der Vorgänge im Canisius-Kolleg.
Mittlerweile höre ich davon, dass die Staatsanwaltschaft Berlin prüft, ihre Untersuchungen in dieser Angelegenheit gegen Peter R., der die Vorwürfe nach wie vor bestreitet, wieder aufzunehmen. Diesen Schritt würde ich sehr begrüßen.
Fünf Jahre der intensiven Auseinandersetzung mit den Verbrechen des sexuellen Missbrauchs liegen hinter uns. Ich bleibe dabei, dass Klarheit und Entschiedenheit der einzig mögliche Umgang mit diesem Thema sind. Mit großer Loyalität sind Sie als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Weg mitgegangen und haben diese Linie durch Ihr Engagement im Rahmen der Präventionsarbeit persönlich unterstützt. Dafür danke ich Ihnen und bitte Sie herzlich, dass wir diesen Weg miteinander weitergehen.
Aus Hildesheim grüße ich Sie freundlich und wünsche Ihnen und den Ihnen Anvertrauten schon heute ein gesegnetes Weihnachtsfest,
Ihr Norbert Trelle
Bischof von Hildesheim