Der 35. Evangelische Kirchentag in Stuttgart ist zu Ende

Klug werden im Schneckentempo

Veröffentlicht am 07.06.2015 um 11:33 Uhr – Von Uwe Bork – Lesedauer: 
Klug werden im Schneckentempo
Bild: © KNA
Kirchentag

Stuttgart ‐ Der Evangelische Kirchentag ist am Sonntag mit einem Open-Air-Gottesdienst zu Ende gegangen. Das Glaubenstreffen bot in den vergangenen Tagen sowohl Protestanten als auch Katholiken viel Gelegenheit für gute Erfahrungen. Nur beim Thema "Homo-Ehe" hat sich die Kluft wohl eher vertieft.

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Selbst ein so katholisches Fest wie Fronleichnam, das von Martin Luther einst noch als schändliches Schauspiel abgelehnt worden war, feierte man gemeinsam: Der Prozession trug der evangelische Stadtdekan als Zeichen für die Bedeutung der Bibel ein wertvolles Evangeliar voran, sein katholischer Amtsbruder in einer kostbaren Monstranz die konsekrierte Hostie.

Nicht überall zeigte sich die Harmonie zwischen den Konfessionen auf dem Kirchentag allerdings so ausgeprägt wie bei ökumenischen Gottesdiensten. In Fragen der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare hat sich in Stuttgart die Kluft eher vertieft, die sich zwischen den Spitzen der katholischen und der evangelischen Kirche aufgetan hat. Wenn Hessen-Nassaus Kirchenpräsident Volker Jung in Stuttgart etwa dafür plädierte, die Gender-Debatte zu entideologisieren und die Geschlechterfrage nicht als Glaubens- oder Weltanschauungsfrage zu begreifen, dürfte diese gelassene Haltung zur "Ehe für alle" zwar eine konfessionsübergreifende Mehrheit in der Bevölkerung finden, von den katholischen Kollegen des evangelischen Bischofs aus grundsätzlichen theologischen Gründen aber dennoch kaum geteilt werden.

Ökumenische Einigkeit bei Klimaschutz und Kirchenasyl

Bei anderen auf dem Kirchentag zentralen Fragen waren Katholiken und Protestanten, Kleriker und Laien dagegen in der Regel einer Meinung. Dazu gehört der Appell zu einem nachhaltigen Ausbau des Klimaschutzes ebenso wie die in einer Resolution beschlossene Forderung, für Flüchtlinge sichere Fluchtwege nach Europa zu schaffen.

Bild: ©KNA

"Damit wir klug werden" war das Motto des evangelischen Glaubenstreffens.

Ihr schloss sich in einer Kirchentagsdiskussion sehr zur Überraschung des Publikums sogar Bundesinnenminister Thomas de Maizière an, der allerdings gleichzeitig bei seiner Kritik am Kirchenasyl blieb, das er auf nur wenige Einzelfälle beschränkt sehen will. Dennoch scheint auch er entsprechend der Kirchentagslosung in Stuttgart ein Stück klüger geworden zu sein: "Die Kritik, dass Deutschland sich mit den Dublin-Regeln als Land ohne EU-Außengrenzen einen schlanken Fuß macht, die ist berechtigt" gab er zu und deutete damit an, die bisherige Position der Bundesregierung ändern zu wollen.

Den Bogen zur Wirtschaftspolitik, einem weiteren großen Thema des Kirchentags, schlug auf einer Veranstaltung zum Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP später der EKD-Ratsvorsitzende und bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Er betonte, Handelspolitik sei die "Flüchtlingspolitik der Zukunft" und bezeichnete die christliche Option für die Armen als eindeutigen Auftrag, mit einer solchen Handelspolitik zur Überwindung der Armut beizutragen und die Situation der Schwächsten der Schwachen verbessern.

Im Einklang mit den Veranstaltungsteilnehmern, die auf Plakaten "TTIP und CETA stoppen!" gefordert hatten, aber im offensichtlichen Dissens mit seinem Gesprächspartner, Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, erntete er mit seinem Votum großen Beifall, er könne "nach dem gegenwärtigen Stand eine Zustimmung zu TTIP nicht empfehlen".

Gauck: Kirchentage nutzen der gesamten Gesellschaft

Mit solchen offenen Meinungsäußerungen aber auch mit politischen Aktionen wie einer "Menschenkette für den Frieden" am Samstag festigte der Evangelische Kirchentag einmal mehr seinen Ruf, "Zeitansage" für die Gesellschaft zu sein. Seinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern geht es dabei nicht nur um die Selbstvergewisserung des eigenen Standpunkts, sie können und wollen gleichermaßen über den vergleichsweise engen Kirchenraum hinaus wirken. Insofern läuft auch die Kritik beispielsweise der Giordano-Bruno-Stiftung ins Leere, die Mitfinanzierung von Kirchen- und Katholikentagen durch die öffentliche Hand verletze deren Neutralität und könne nicht länger hingenommen werden.

Kirchentag endet mit Gottesdienst

Mit einem Gottesdienst unter freiem Himmel ist am Sonntag in Stuttgart der 35. Deutsche Evangelische Kirchentag zu Ende gegangen. 90.000 Menschen waren bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen auf den Cannstatter Wasen gekommen. In ihrer Predigt beschrieb die evangelische Pastorin und Wort zum Sonntag-Sprecherin Nora Steen die Flüchtlingsfrage als eine der wichtigsten Gegenwartsprobleme. Beim Kirchentag sei im Kleinen das Modell einer gerechteren Gesellschaft aufgeschienen, so Steen. "Eine Gesellschaft, die Raum hat für alle und jeden. Menschen, die aufeinander achtgeben, sich zuhören." Am Ende der Feier sprachen die Verantwortlichen für die nächsten Christentreffen Einladungen aus. Im kommenden Jahr findet in Leipzig der Katholikentag statt. Der nächste evangelische Kirchentag ist 2017 in Berlin und Wittenberg. (KNA)

In seiner Begrüßungsrede am Mittwoch hatte Bundespräsident Joachim Gauck dazu bereits eine deutliche Gegenposition bezogen, als er erklärte, Menschen könnten auf Veranstaltungen wie Kirchentagen Glauben als eine Quelle erfahren, die ihrem Leben Sinn gibt. Nutznießer davon seien nicht nur sie selbst, denn "was sie empfangen, ist zum Nutzen nicht nur des Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Staat und Gesellschaft haben etwas davon, dass Menschen sich inspirieren und aktivieren lassen, dass Menschen Werte leben und bewahren, dass sie unter Umständen dafür sogar kämpfen und leiden können."    

"Damit wir klug werden", das war die aus dem 90. Psalm stammende Losung dieses 35. Evangelischen Kirchentages, und das knapp fünftägige Mammutevent bot mit seinen rund 2.500 Veranstaltungen in der Tat genügend Gelegenheit, diesem Ziel zumindest näherzukommen. Zwar bezeichnete Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann dort das Schneckentempo als "Normalgeschwindigkeit der Demokratie", Optimisten hoffen jedoch, Veranstaltungen wie der Kirchentag in Stuttgart oder auch der nächste Katholikentag in Leipzig könnten nach und nach dazu beitragen, das Tempo des gesellschaftlichen Fortschritts wenigstens auf Schrittgeschwindigkeit anzuheben.

Von Uwe Bork