Krippe ganz anders
Der Wechsler im Tempel hat schwere Füße. Und das hat absolut nichts damit zu tun, dass er bereits einen langen Auftritt als einer der Heiligen Drei Könige hinter sich hat. Nein, dass die unteren Gliedmaßen des Mannes im prachtvollen Gewand jede Waage außergewöhnlich stark ausschlagen lassen, liegt allein daran, dass sie aus purem Blei sind und mit ihrem Gewicht für seine Standfestigkeit sorgen müssen. Der Wechsler ist nämlich eine von mehr als einhundert rund dreißig Zentimeter großen Figuren, die im Gemeindezentrum von St. Michael in Reichenbach bei Stuttgart eine sogenannte Osterkrippe bilden.
Selbst viele traditionsbewusste Christen dürften bei diesem Wort stutzen. Eine Osterkrippe? Das klingt zunächst einmal befremdlich, lässt eine allzu kurze Verbindung der nicht nur Kinderherzen erwärmenden Weihnachtsgeschichte mit dem gewaltigen Geschehen auf dem Kalvarienberg befürchten. Doch nur die Ruhe: Eine derart vordergründige und leicht in die Abgründe frommen Kitsches führende Verbindungslinie wird in Reichenbach keineswegs gezogen, auch wenn – siehe oben – manche Figuren durchaus doppelten Dienst schieben müssen und zugegebenermaßen die Osterkrippe der Gemeinde aus einer Weihnachtskrippe entstanden ist.
"Unsere Krippe zu Weihnachten", erzählt die bald 86-jährige Waltraud Thiessen mit landestypisch schwäbischer Schaffermentalität, "hat uns irgendwann nicht mehr genügt, und deshalb haben wir uns gedacht, wir müssten etwas Neues machen." Aus einer ersten Darstellung des Einzugs in Jerusalem entstand dann ziemlich bald die Idee, man könnte ebenso wie in einer liebevoll gestalteten Szenerie von der Geburt Jesu zu erzählen, doch auch die Passionsgeschichte vermitteln. Mit Puppen, einer maßstabgerecht gebauten Dekoration und einem gemalten Hintergrund. Ganz neu ist dieser Gedanke nicht, denn Osterkrippen waren vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Europa sehr beliebt, später gerieten sie allerdings weitgehend in Vergessenheit.
Leid und Leiden als besondere Herausforderung
Der Grund für ihren Popularitätsschwund dürfte auf der Hand liegen: Während die Weihnachtsgeschichte mit der Geburt des Erlösers, der beschützenden Elternliebe von Maria und Josef und der Idylle von Ochs und Esel samt blökenden Schafen die Freude und die Verheißung in den Vordergrund stellt, verlangt die Passionsgeschichte vom hörenden und betrachtenden Publikum die Bereitschaft, sich mit außerordentlichem Leid und Leiden auseinanderzusetzen: Für die Darstellung in Krippenform eine besondere Herausforderung. Eine Gruppe von etwa fünfzehn handwerklich geschickten und künstlerisch begabten Männern und Frauen hat sie in der Gemeinde St. Michael dennoch angenommen. Man plante und skizzierte, entwarf und baute Szenenbilder und Figuren, aus ersten Vorstellungen wurde Realität. Und so wuchs das Projekt im Laufe von nur wenigen Jahren. Und wuchs. Und wuchs.
Heute kann Waltraud Thiessen gemeinsam mit ihren Mitgestaltern und -gestalterinnen auf vierzehn großen Ausstellungstischen stolz das bis dato zusammengeschreinerte, -genähte und -gemalte Ergebnis der generationenübergreifenden Teamarbeit präsentieren, für das Besucher mittlerweile sogar aus der Schweiz kommen: "Im September fangen wir immer mit den Kulissen an, die brauchen ja am längsten. Dann geht es an die Figuren, von denen haben wir zwar schon viele, aber allein dreißig Paar Sandalen mussten wir in diesem Jahr wieder neu herstellen." Die künstlerische Freiheit findet dabei manchmal ihre Grenzen in den Erfordernissen der Dramaturgie: "Wir haben hier elfmal den Jesus, und der muss ja immer gleich aussehen. Beim ersten Mal haben wir da noch nicht so aufgepasst, bis dann aber vor allem die Kinder gemerkt haben, dass er einmal einen Bart hat und dann wieder nicht. Das geht natürlich nicht."
Die Frau, die sogar schon ihre Enkel zum Modell für Krippenfiguren werden ließ, lässt sich durch solche kleinen Ungenauigkeiten die Laune jedoch nicht verderben. Der Bau und die Erweiterung der Osterkrippe – "Für das nächste Jahr haben wir schon wieder zwei neue Themen!" – sind für sie nämlich viel mehr als nur ein Hobby. Waltraud Thiessen, die als Mitglied der katholischen Jugend schon im Jahr 1943 an Bibelseminaren teilnahm, will immer noch Menschen an die Bibel heranführen und mit ihr vertraut machen. Oft sind das die Kinder der umliegenden Kindergärten, denen sie erklärt, wie das damals so war mit dem einsamen Gebet am Ölberg oder dem Verhör durch Pontius Pilatus, manchmal führt sie aber auch Menschen durch die Panoramen im Reichenbacher Gemeindehaus, die zwar ähnlich positiv reagieren wie ihr jüngstes Publikum, die aber aus einer gänzlich anderen Ecke kommen: "Wir haben auch viele Demenzkranke hier, in denen bei uns häufig wieder ihre Kindheit oder ihre Jugend erwacht. Die erinnern sich dann plötzlich und merken: Da war ja was!"
Was da genau war, das wollen sie allerdings fast immer nicht einfach nur hören oder sehen, wie Waltraud Thiessen beobachtet hat: "Die gucken auch mit den Händen." Kaputtgegangen sei dabei allerdings noch nie etwas, freut sie sich. Manchmal braucht es eben nur einen Bleifuß, um den Glauben weiterzugeben.