"Manche kommen zum Glauben, manche verlieren ihn"
Frage: Sie sind hauptamtlich Polizeiseelsorger. Mit welchen Anliegen wenden sich Polizisten an Sie?
Georg Hug: Es sind teilweise alltägliche Themen wie etwa Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten, persönliche Probleme wegen Beziehungen, Krankheiten oder Todesfällen. Als Diakon werde ich auch immer wieder gefragt, ob ich ein Paar trauen oder eine Taufe halten kann. Mittlerweile klagen viele Polizisten aber auch über die zunehmende Belastung.
Frage: Woher kommt die Belastung?
Hug: Es gibt mehr Gewalt gegen die Polizei. Das fängt mit verbalen Attacken an und geht bis zu körperlichen Angriffen. Denken Sie an die Einsätze bei Fußballspielen, bei Pegida-Demonstrationen oder bei der Eröffnung der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Ich bin immer wieder bei Einsätzen dabei und erlebe das dann hautnah mit. Da wird massiv Gewalt gegen die Polizei ausgeübt. Es passiert tatsächlich häufig, dass irgendwo aus der Menge eine Flasche oder ein Stein angeflogen kommt. Vermehrt werden Polizisten auch in Hinterhalte gelockt, um sie anzugreifen. Die Polizei muss sich davor schützen – und notfalls Gewalt anwenden.
Frage: Was war ein besonders schlimmes Ereignis?
Hug: Nach der Räumung der Baustelle für das Großprojekt Stuttgart 21 wurden Polizisten im ganzen Land bei Verkehrskontrollen beleidigt und etwa als Kinderschänder bezeichnet – obwohl sie einfach ihre Arbeit taten. Einmal schlug ein junger leicht alkoholisierter Mann auf dem Revier um sich und beschimpfte die Beamten als Nazis. Ein anderes Mal habe ich miterlebt, wie bei einem Fußballspiel Fangruppen zuerst aufeinander und schließlich auf die Polizei losgingen.
Frage: Wie erklären Sie sich diese Entwicklungen?
Hug: Viele Menschen haben immer weniger Respekt vor Autoritäten. Die Gewalthemmschwelle ist gesunken. Das erleben andere Repräsentanten des Staates oder beispielsweise Lehrer genauso wie die Polizei. Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, Respekt vor Polizisten zu haben und ihren Anweisungen Folge zu leisten. Da geht es um Werte, die weder in der Familie noch in der Schule vermittelt werden. Stattdessen gibt es eine Diskussionskultur. Das ist einerseits gut. Andererseits kann ich mit einem Polizisten nicht drei Stunden diskutieren, ob ich zum Beispiel einen Platz verlassen muss. Wir haben viele vermeintliche Experten. Sie verhalten sich wie kleine Rechtsanwälte, die meinen, sie wüssten die Dinge besser.
Frage: Gibt es noch andere Faktoren?
Hug: Ja. Gerichtsurteile fallen häufig negativ für die Polizei aus. Es herrscht ein Klima, in dem die Arbeit der Beamten nicht mehr unterstützt wird. Natürlich müssen Polizisten sich vor Gericht für bestimmte Handlungen verantworten. Tatsächlich bekommen sie aber oft die Höchststrafe. Ihre eigenen Belange werden dagegen häufig nicht berücksichtigt. Das Kürzel "A.C.A.B.", das für "All cops are bastards" steht (Deutsch: Alle Polizisten sind Bastarde), stellt zum Beispiel nach einem richterlichen Beschluss keine Beleidigung dar.
Frage: Wie verändert der Flüchtlingsstrom die Arbeit der Polizei?
Hug: Für die Aufnahme, Überprüfung und Gewährleistung der Sicherheit in und um die Flüchtlingszentren ist viel Polizeieinsatz gefordert. Auf der einen Seite nehmen Straftaten von Geflüchteten oder Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften zu. Auf der anderen Seite gibt es Anschläge auf Flüchtlingsheime oder geplante Unterkünfte. Das alles müssen die Beamten zusätzlich zu ihren Regelaufgaben bewältigen. Sie schieben Berge an Überstunden vor sich her. Unabhängig von der Flüchtlingskrise steigt beispielsweise die Zahl an Wohnungseinbrüchen und die Internetkriminalität. Es fehlt einfach überall an Personal.
Frage: Sprechen die Polizisten mit Ihnen über diese zunehmende Belastung?
Hug: Ja, natürlich. Es geht immer wieder darum: Wie kann ich mich entlasten? Wenn sie ständig im Stress sind, wird es mit der Entlastung aber schwierig. Wer von einem Einsatz in den anderen muss und keine Pause dazwischen hat, der wird das irgendwann gesundheitlich spüren. Es kommt regelmäßig dazu, dass Polizisten aus dem Dienst genommen werden müssen, weil sie die Belastung nicht mehr verkraften.
„Die Bedrohung hat natürlich zugenommen, aber nicht so wesentlich, wie es einem das Gefühl vielleicht sagt.“
Frage: In der vergangenen Woche gab es in Berlin einen Anschlag, die Angst vor islamistischem Terror ist mittlerweile überall präsent. Was bedeutet das für die Polizisten?
Hug: Die Terroranschläge verändern das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Die Bedrohung hat natürlich zugenommen, aber nicht so wesentlich, wie es einem das Gefühl vielleicht sagt. Dennoch muss die Polizei signalisieren: Wir sind da. Die Polizeipräsenz etwa bei Fußballspielen, Demonstrationen oder bei den Weihnachtsmärkten ist viel höher als früher. Das ist ein Riesenaufwand und trotzdem werden die Beamten die Sicherheit nicht hundertprozentig gewährleisten können. Wenn wir die Weihnachtsmärkte absichern, dann passiert da weniger. Aber dann könnte sich ein potentieller Attentäter möglicherweise einen weniger gesicherten Bereich aussuchen.
Frage: Müssen die Beamten wegen der Terrorgefahr Zusatzausbildungen absolvieren?
Hug: Seit einigen Jahren gibt es zusätzlich zu der Grundausbildung eine Ausbildung für Situationen wie Amokläufe. Außerdem werden die Maschinenpistolen der Polizei aktuell gegen Gewehre mit höherer Durchschlagskraft ausgetauscht, um Terroristen gegenübertreten zu können, die auch solche Waffen benutzen. Für den Umgang damit sind Schulungen nötig, was wieder einen erheblichen Personalaufwand darstellt.
Frage: Vor fast einem Jahr kam es in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten zu zahllosen Übergriffen auf Frauen – ein Großeinsatz für die Polizei. Spüren Sie dieses Jahr eine besondere Anspannung?
Hug: Ja, klar. Dieses Jahr werden viel mehr Polizisten als letztes Jahr Dienst haben. Die Polizei möchte präsent sein. Die Beamten müssen mehr Bereiche sichern und intensiver kontrollieren. Sie werden wieder viele Überstunden machen.
Seelsorge von A bis Z: Polizeiseelsorge
Die Arbeit eines Polizisten ist körperlich sowie geistig sehr fordernd. Extreme Belastungen müssen ausgehalten werden. Katholisch.de erläutert, wie Seelsorger zur Verfügung stehen, um diesen Menschen beizustehen.Frage: Welche Rolle spielt angesichts dieser vielen Belastungen der Glaube für die Polizisten, die zu Ihnen kommen?
Hug: Wir beraten die Menschen unabhängig von Konfession oder Religion. Es geht zunächst einfach um eine Lebensbegleitung. Aber natürlich spielen religiöse Themen immer wieder eine Rolle. Polizisten sind an Schnittstellen des Lebens tätig und haben deshalb viel mit Trauer und Tod zu tun. Da stellen sich ihnen die Grundfragen des Lebens: Was hat das für einen Sinn? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Dazu kommen Fragen nach Macht und Gewalt: Wie soll ich meine Macht ausüben? Vor wem verantworte ich mich? Oder das Thema Gerechtigkeit: Wie kann ich gerecht sein? Polizisten wollen ja für Gerechtigkeit eintreten.
Frage: Finden manche durch die Konfrontation mit diesen Fragen überhaupt erst den Glauben?
Hug: Manche kommen zum Glauben, manche verlieren ihn. Wenn Sie ständig damit zu tun haben, dass Unrecht passiert und unschuldige Menschen sterben, können sie schon ins Zweifeln geraten. Auch wir Seelsorger haben keine befriedigende Antwort auf Fragen nach Leid und Ungerechtigkeit. Die Antwort muss im Menschen selbst entstehen. Aber wir lassen in solchen Situationen niemanden allein. Wir sind da.
Frage: Wie sieht es bei Ihnen aus – haben Sie einen Seelsorger?
Hug: Polizisten fragen mich oft, wie ich mit der Belastung in meinem Beruf umgehe. Da antworte ich immer, dass für mich das Gleiche gilt wie für sie. Sie müssen gut nach sich selbst schauen, um neben dem vielen Schweren auch Schönes zu erleben. Ein Gesprächspartner kann da eine große Hilfe sein. Das gilt für die Polizeiseelsorger ebenso. Ich habe einen geistlichen Begleiter. Anders könnte ich mir meine Arbeit nicht vorstellen.